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Der Autor

Peter Pragal wurde 1939 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geboren. Nach Flucht und Vertreibung kam er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er das Abitur machte und nach dem Studium der Publizistik, Neueren Geschichte und Politik auch die Journalistenschule in München besuchte.

Als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung war er für die Berichterstattung aus der DDR, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn zuständig. Pragal war außerdem leitender Redakteur bei der Berliner Zeitung. Seit 2004 arbeitet er als freier Journalist und Publizist in Berlin.

Basierend auf persönlichen und professionellen Erfahrungen hat er mehrere Bücher herausgegeben, unter anderem "Der geduldete Klassenfeind - Als Westkorrespondent in der DDR" und "Wir sehen uns wieder mein Schlesierland - Auf der Suche nach Heimat".

Im Internet: www.prager-literaturhaus.comwww.prager-literaturhaus.com
| | Panorama | 22.4.2015

Hollywood an der Moldau

Pragals Prager Tagebuch (13)

Als ich eines Tages die Treppe hinab schritt, die von der Neuen Bühne neben dem Nationaltheater zur Masaryk-Uferstraße führt, kam ich nicht weiter. Sicherheitsleute versperrten mir den Weg. Ein Filmteam hatte mit seinen Aufnahmewagen die Straße blockiert. Aus der Unterführung, über die der Verkehr normalerweise in der Gegenrichtung abgeleitet wird, raste ein Auto und stoppte mit quietschenden Reifen kurz vor dem Goethe-Institut. Der Kameramann, der die Szene vom Straßenrand aus gefilmt hatte, setzte sein Gerät ab. „Okay“, rief ein Mann, den ich für den Regisseur oder den Aufnahmeleiter hielt.

Filmleute bei der Arbeit sind in Prag ein gewohntes Bild. Die im Zweiten Weltkrieg nahezu unzerstörte Stadt mit ihren Bürgerhäusern und Palais, ihren Kirchen, Türmen und Brücken bietet Produzenten aus dem In- und Ausland eine nahezu ideale Kulisse. Erst kürzlich sah ich, begleitet von einem Aufnahme-Team, den mexikanisch-französischen Opernsänger Rolando Villazon. Der in aller Welt gefeierte Tenor mit österreichischen Vorfahren stand neben dem Stände-Theater. Offenbar ging es um Mozart. Denn in diesem Haus fand am 29. Oktober 1787 die Uraufführung von Don Giovanni statt. Den neoklassizistischen Bau hatte bereits der tschechische Filmemacher Milos Forman als Kulisse für Szenen seines Oskar-Erfolges „Amadeus“ gewählt.

Wenn man am Bahnhof Smichov in den Bus 105 steigt, kommt man nach einer knappen Viertelstunde zu den Filmstudios Barrandov. Das weiträumige Gelände liegt auf einem Hügel und ist eine Stadt für sich, mit Büros, Ateliers, älteren und hochmodernen Bauten, die man als nicht angemeldete Einzelperson leider nicht besichtigen kann. Berühmte Filme sind hier entstanden wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, den - wie Tschechen wohl zu Recht sagen - „schönsten Märchenfilm aller Zeiten.“ Auch prominente Filmleute aus dem Ausland haben hier gearbeitet. Joseph Vilsmaier drehte hier „Stalingrad“, Bille August „Les Miserables“, Brian de Palma „Mission Impossible“ mit Tom Cruise und Roman Polanski „Oliver Twist.“ Auch der James-Bond-Film „Casino Royale“ ist, wie der in Prag lebende deutsche Journalist Hans-Jörg Schmidt in seinem Buch „Tschechien - Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche“ berichtet, in den Barrandov-Studios entstanden.

Die Gründung der Filmstadt, die Medien später das „Hollywood des Ostens“ nannten, geht auf die Familie Havel zurück. Milos Havel, der Onkel des späteren Präsidenten, hatte nach einem Besuch in Los Angeles Anfang der 30-er Jahre die ersten Studios im Prager Vorort Barrandov gebaut. 1933 wurde dort der erste Film produziert. Seine Begeisterung für das neue Medium kam nicht von ungefährt. Vaclav Havel, der Großvater des Dichters und nachmaligen Staatsoberhaupts, hatte am Wenzelsplatz den Kulturpalast Lucerna geschaffen, zu dem auch ein Kino gehört, in dem zunächst Stummfilme gezeigt wurden. Milos Havel erweiterte das Programm und zeigte mit dem US-amerikanischen Streifen „Showboot“ dem Prager Publikum den ersten Tonfilm.

Als die Nazis im Frühjahr 1939 Böhmen und Mähren besetzten und zum Protektorat erklärten, fiel ihr begehrlicher Blick auch auf die mit modernster Filmtechnik ausgestatteten Barrandov-Studios. Milos Havel musste sie für einen geringen Preis verkaufen. Da die Film-Produktionsstätten im Reich mehr und mehr durch Bombenangriffe von Briten und Amerikanern gefährdet waren, wurde Prag zum wichtigsten deutschen Drehort. Propaganda-Minister Joseph Goebbels, der eine Liebesbeziehung zur tschechischen Schauspielerin Lida Baarova unterhielt, ließ neue Ateliers errichten. Deutsche Stars wie Hans Albers, Heinz Rühmann, Theo Lingen und viele andere Publikumslieblinge standen in Prag vor der Kamera. Bis Kriegsende entstanden rund hundert Streifen, vorwiegend aus dem Genre leichte Unterhaltung.

Nach Kriegsende wurden die Barrandov-Ateliers verstaatlicht. Während der Zeit des politischen Tauwetters erlebte der tschechoslowakische Film seine, wie Fachleute meinen, kreativste Phase. Mit unkonventionellen, mitunter auch grotesken Produktionen setzten sich Regisseure gegen den Dogmatismus der regierenden Kommunisten zur Wehr. Nach dem gewaltsam beendeten Prager Frühling konzentrierten sich die Filmemacher auf politisch unverdächtige Märchenfilme, die international zum Besten zählen, was es in dieser Sparte gibt. Aber nicht alle Filme entgingen der Zensur. Manche wurden wegen ihrer angeblichen „antisozialistischen Tendenz“ nicht freigegeben und konnten erst nach 1989 öffentlich gezeigt werden.

Der Einzug der Marktwirtschaft schuf neue Probleme. Die Studios wurden privatisiert, Subventionen gestrichen und viele Mitarbeiter entlassen. Zeitweise stand Barrandov vor der Pleite. Co-Produktionen mit westlichen Filmemachern und Aufträge des tschechischen Fernsehens sorgten dafür, dass es weiter ging. Inzwischen ist die Produktion von Kino- und Fernsehfilmen in Tschechien ein wichtiger Wirtschaftszweig. Deutsche Unternehmen nutzen den Standort an der Moldau wegen der Kostenvorteile. „Prag rollt internationalen Produzenten den roten Teppich aus“, schrieb jüngst das der „Prager Zeitung“ beigelegte Wirtschafts-Magazin. „Wer in Tschechien dreht, bekommt 20 Prozent der Kosten aus dem Staatssäckel erstattet.“

Aber es sind nicht allein die Vorteile bei der Finanzierung. Auch die lange Filmtradition und das fachliche Können der Dienstleister und Filmhandwerker wie Cutter, Tontechniker, Kamera- und Kostümverleiher machen die Prager Filmstudios für ausländische Produzenten attraktiv. Spezialisten wie Komparsen, Maskenbildner, Stuntmen und Kulissenbauer gibt es hierzulande reichlich. Und wenn ein Film beispielsweise im Mittelalter spielt, dann sorgen erfahrene Patinierer für eine künstliche Alterung an Gebäuden und Kleidung. Der Fundus der Studios Barrandov gehört zu den größten in Europa.

Zur Zeit profitiere Tschechien vom Boom historischer Streifen, berichtet das Wirtschaftsblatt. Die vom ZDF mitfinanzierte Familiensage „Borgia“ wurde zum Teil auch in Prag gedreht. Vor den Toren der Hauptstadt verfilmte die ARD bis Ende 2014 die Romanreihe „Die Hebamme“. Manfred Brey von der deutschen Herstelllungsleitung wird in dem Blatt wie folgt zitiert: „In Deutschland sind die meisten Gebäude so extrem renoviert, dass man nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen darf. Hier aber finden wir noch viele authentische Drehorte, die nicht saniert sind.“

geschrieben am 22. April 2015

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