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Der Autor

Nassir Djafari wurde 1952 im Iran geboren und ist im Alter von 5 Jahren mit seiner Familie nach Frankfurt am Main gezogen. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre war er in verschiedenen Funktionen der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig.

Dem literarischen Schreiben widmet er sich seit 2012. Im Jahre 2020 erschien sein Debütroman „Eine Woche, ein Leben“ (Sujet Verlag) und 2022 folgte sein zweiter Roman „Mahtab“. Ein dritter Roman befindet sich derzeit im Lektorat.

Im November / Dezember 2023 ist Nassir Djafari ein Stipendiat im Prager Literaturhaus (in Zusammenarbeit mit dem Hessischen Literaturrat). Aktuell arbeitet er an einem literarischen Projekt zum Prager Frühling und den Aufenthalt in Prag möchte er zu einer Recherche vor Ort nutzen.

Bildnachweis:
© Nassir Djafari

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| | Feuilleton | 29.11.2023

Wo ist Mendelsohn?

Schon bei meinem ersten Spaziergang durch Prag komme ich am Rudolfinum, dem großen Konzerthaus im Neorenaissance Stil am Ufer der Moldau vorbei. Ich schaue, wie gebannt zur Balustrade, wo die Statuen großer Komponisten stehen, und muss an den Roman „Mendelsohn auf dem Dach“ des tschechischen Schriftstellers Jiri Weil denken, einem Sittengemälde der Zeit des deutschen Protektorats „Böhmen und Mähren“ unter der Herrschaft des Massenmörders Reinhard Heydrich. Der Schlächter von Prag, so erzählt Weil, entdeckt auf der Balustrade die Statue von Felix Mendelsohn-Bartholdy. Er befiehlt, unverzüglich das Abbild dieses Juden entfernen zu lassen. Damit beginnt dieser großartige Roman, der aus wechselnder Perspektive von Opfern, Tätern und Beteiligten die Zerstörung jüdischen Lebens auf dem Gebiet der heutigen Tschechei in jenen Jahren nachzeichnet.

Ich laufe weiter, in die Altstadt, an den wunderschönen Teynkirche vorbei ins ehemalige Judenviertel, schaue mir die altehrwürdige Synagoge aus dem 13. Jahrhundert an, und anschließend die jüdischen Gotteshäuser, die später hinzugekommen sind. Ich bemühe mich, die allgegenwärtigen Touristen um mich herum auszublenden und mich in das jüdische Leben in Prag hineinzufühlen, soweit es überhaupt möglich ist. Es gelingt mir nicht, da ist zu viel Ablenkung und so Vieles, was ich nicht weiß, im Grunde genommen bin ich auch nur ein Tourist, gestehe ich mir ein. Erst auf dem jüdischen Friedhof, auf dem die teils in Schieflage geratenen Grabsteine dicht an dicht stehen, allenfalls einen halben Meter voneinander entfernt, erst da, wo auf kleinster Fläche 100.000 Verstorbene in vielen Lagen übereinander bestattet sind, da ahne ich, wie die Juden in früheren Jahrhunderten in Prag gelebt hatten. Nicht nur die Lebenden wurden in ein Getto gesperrt, sondern auch ihre Toten. Nach deutschen Kategorien entspricht die Zahl der dort Bestatteten der Bevölkerung einer Großstadt, und das – geschätzt - auf einer Fläche, die noch nicht einmal zwei Fußballfeldern entspricht.

Auf einer Informationstafel in der „Spanischen Synagoge“ lese ich von Kaiser Josef den Zweiten, der im ausgehenden 18. Jahrhundert den Juden eine Reihe von Rechten gewährte. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht wurden die Juden angewiesen, deutschsprachige Schulen zu errichten, und wenn das nicht möglich war, sollten ihre Kinder deutsche christliche Schulen besuchen. Ziel sei die Assimilation der jüdischen Bevölkerung gewesen, so steht es auf der Informationstafel, und ich komme nicht umhin, an die Integrationsdebatte in Deutschland zu denken.

Die Assimilierung jüdischer Familien schritt tatsächlich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts fort, was sie allerdings unter dem deutschen Protektorat nicht vor der Ermordung durch die SS schützte. Das Zusammenleben von Tschechen, Deutschen und Juden in der Tschechoslowakei war bis 1938 zwar nie konfliktfrei, aber es gelang mehr oder weniger. Die Nazis rissen alles in Stücke. Im Nationalmuseum entdecke ich in der Ausstellung über die Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Ecke drei nebeneinander in den Fußboden eingelassenen kleine Bildschirme, die in kurzen Filmsequenzen die Vertreibung der Tschechen im Sudentenland durch die Deutschen ab 1938, die Deportation der jüdischen Bevölkerung ab 1939 und die Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen nach dem Ende des Kriegs zeigen. Ich bin erstaunt über diese Darstellungsweise, als wäre es bei der Deportation der Juden einfach nur um den Verlust der Heimat gegangen, so wie bei Tschechen und Deutschen und nicht um ihre Vernichtung. Ansonsten entdecke ich im Nationalmuseum nur wenig über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in der Zeit des Protektorats. Auch über den Antisemitismus in der sozialistischen Ära, die Schauprozesse, denen auffällig viele Juden zum Opfer fielen, finde ich keine Hinweise.

Einige Abende später betrete ich erstmals das Rudolfinum. Ich freue mich auf das Konzert von Musikern des Prager Philharmonie-Orchesters und betrachte das Foyer mit der beleuchteten Glasdecke, bewundere die schlichte Eleganz des Raums, und denke erneut an Jiri Weil. Ob die Mendelsohn-Statue inzwischen wohl wieder auf der Balustrade steht? Oder war sie nie weg? Hat sich der Schriftsteller das nur ausgedacht? Das zu erkunden wird eines meiner nächsten Projekte sein, auf meinen Streifzügen durch Prag.

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