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Rubrik: Sport, Fußball | 11. Juli 2024, 18:54 Uhr
Gerd Lemkes EM-Kolumne aus Prag (14): Gerd Lemke sieht das zweite Halbfinale zu Hause

Geplant – getan, das Halbfinale England – Niederlande fällt unter das public viewing Embargo, weil öffentliches Saufen und Grölen bei 30°C nicht zu den umweltfreundlichsten Betätigungen der Insulaner gehören (vgl. The Fall: British People in Hot Weather). Zu Hause ist es auch ganz gemütlich und ich habe meine Ruhe. Die brauche ich auch, rechne ich, vor den anstrengenden nächsten Tagen, erst am Dienstag, also schon weit nach Ende des Turniers, wenn sich nur noch die Siegernation daran wird erinnern können, sehe ich den ersten ruhigeren Tag vor mir.

Hymnensingen ist Pflicht

Dann mal los, Hymnensingen ist für die Nationalspieler beider Mannschaften zur Pflicht geworden, stelle ich fest, da stehen sie sich in Nichts nach. Das Spiel kann also beginnen.

Die Bilanz nach 18 Sekunden: zwei hohe Kopfbälle im Mittelfeld und ein Foul. Wenn es so weiter geht, sollte der Schiedsrichter ein Volleyballnetz entlang der Mittellinie aufstellen lassen. Aber sechs Minuten später klingelt es schon, Rice verliert im Spielaufbau einen Ball an Xavi, der noch ein paar energische Schritte macht und einfach mal so aus rund 20 Metern abzieht. Pickford fliegt bilderbuchmäßig, reckt und streckt sich, der Ball sitzt im linken Winkel. Wow, was für ein Knaller!

Xavi hier, Kane dort

Das Spiel geht ja gut los – und auch weiter. Nach einer Viertelstunde knallt Kane einen Ball aus der Drehung als volley über das Tor. Chance vergeben, aber Pfeifenmann Zwayer wird an den Bildschirm beordert: Dumfries hat übel den Fuß draufgehalten, Zwayer, der ex-Spieleverschieber in der deutschen dritten Liga (in welchem Resozialisierungsprogramm hat der es geschafft, so weit in der Schiedsrichterliga aufzusteigen?), muss einen Strafstoß und eine gelbe Karte geben, da bleibt selbst ihm kein Spielraum mehr. Kane, der gerade noch einen Mittelfußbruch gehabt zu haben schien, schnappt sich den Ball und versenkt ihn nach seiner Blitzheilung sicher unten links (vom Schützen aus gesehen). Und nur gute fünf Minuten später tanzt Phil Foden mit der Abwehr und dem Torhüter ein wenig waltz am Fünfmeterraum und schiebt dem Tormann den Ball überlegt durch die Beine. Dumfries stoppt das Spielgerät deutlich sichtbar auf der Linie, was für eine Rettungsaktion!

Nach einer knappen halben Stunde köpft Dumfries – ja, spielt bei den Niederländern denn sonst noch jemand mit? - einen Eckball an die Latte. Das wär's doch gewesen, ist es aber leider nicht, genau wie Fodens Schlenzer kurz darauf, der am linken Außenpfosten endet.

Spiel verflacht, Tee vermilcht

Das war's dann aber langsam auch mal, genug Aufregung, die englische Spaßbremse tritt wieder in Kraft, teatime!, für die nächste halbe Stunde rührt sich nicht mehr viel außer der Milch im Tee (pfui! Ich trinke täglich zwei bis drei Liter Tee, käme aber nie auf die Idee, Milch hineinzukippen. Aber kein Wunder, wenn one only fermentierte Teeblätter verwendet. Grüner Tee, das ist Tee, aber davon haben die auf ihrer Insel trotz jahrhundertelanger Kolonisation noch nie gehört. Andersherum breiten sich IPA und APA wie eine Seuche aus, das Notbier der englischen Kolonisatoren und Sträflinge, die von der Insel verbannt worden sind. Je stärker der eklige Nachgeschmack ist, desto besser scheint es bewertet zu werden. Eine Geschmacksverirrung und meinem Gaumen.)

Zwayer in Aktion

Die nächste bemerkenswerte Szene im Spiel ist eine Freistoßhereingabe, die van Dijk direkt auf Tor lenkt und Pickford zu einer schönen Parade zwingt. Da ist schon eine gute Stunde gespielt. Zehn Minuten später gibt Xavi auch mal wieder einen Torschuss ab, zwei Minuten danach taucht England wie aus dem Nichts wieder aus der Versenkung auf, der Ball zappelt im Netz, doch der Linienrichter winkt ab, Abseits.

Nackenschlag in Nachspielzeit

Nun tut sich Zwayer wieder hervor, der gute alte Spieleverschieber hat nichts verlernt. In vier, fünf kleinen Situationen benachteiligt er die Niederlande, legt einen Vorteil nach einem Foul falsch aus, ein andermal pfeift er ihn ab, gibt einen klaren Eckball nicht, sieht Fouls, wo keine sind und umgekehrt. Nichts Großes, keine groben Fehlentscheidungen, gelernt ist eben gelernt, doch wie sagte schon Fußballwortschöpfer Trappatoni, Giovanni: „Kleine situazione entscheide große Spiele“. Die Niederländer können dadurch keinen vielversprechenden Ansatz mehr zu Ende spielen und England macht in der Nachspielzeit ein Tor. Watkins, irgendwann eingewechselt (wo spielt der eigentlich?), bekommt den Ball im Sechzehner mit dem Rücken zum Tor, dreht sich und zieht aus spitzem, aber nicht zu spitzem Winkel flach ins lange Eck ab, dem Verteidiger durch die Beine. Der Ball sitzt und England steht im Finale. Mit etwas besserem Fußball als zuvor, doch Veregnügungssteuer würde ich dafür immer noch nicht bezahlen.

England – Spanien 1982

Also dann, am Sonntag Spanien – England. Die letzte Turnierbegegnung der beiden, an die ich mich erinnere, endete 1982 0:0. Was insofern wichtig für Deutschland (West) war, da es so ins Halbfinale einziehen durfte. Die Nacht von Sevilla, Harald „Toni“ Schumachers legendäres Foul an Battiston, überhaupt, die kernige Nationalmannschaft mit Karl-Heinz Förster, Zyniker Paul Breitner, Zehnkämpfer Hans-Peter Briegel, „Quälix“ Felix Magath, Bayern-Scharfmann Karl-Heinz Rummenigge, Kopfballungeheuer Horst Hrubesch, Fallrückzieher-Klaus Fischer und wohl auch „Loddar“-Plaudertasche Matthäus (oder nicht?), diese Namen der unsympathischsten deutschen Großereignis-Truppe aller Zeiten gehen einem doch wie Öl runter. Ach, ich gerate ins Schwärmen (1.2 gegen Algerien; Nichtangriffspakt gegen Österreich, die „Schande von Gijon“; die brutalo-Nacht von Sevilla und der gerade noch so verhinderte kleine Grenzkrieg im Saarland; Finale „Chancenlos gegen Italien“). Wer das erlebt hat, wird es nie wieder vergessen und hat sich die folgenden Jahre bis zur Wiedervereinigung für seine Staatsangehörigkeit entschuldigt.

Rubrik: Sport, Fußball | 1. Juli 2024, 19:12 Uhr
Gerd Lemkes EM-Kolumne aus Prag (9): Deutschland kommt weiter, Gerd Lemke regt sich aber trotzdem auf

Die Arbeit, das Leben, der Käse: drei wichtige Dinge, die auch vor dem Fußball nicht Halt machen. Das Schöne dabei ist, dass sich Deutschland wesentlich leichter tut, wenn ich nicht mitfiebernd vor dem Bildschirm der Allzweckmaschine sitzen kann. Und irgendwie geht der 2:0-Sieg gegen Dänemark auch in Ordnung, habe ich gehört.

Das königliche Lustschloss der Königin Anna

Also, den Tag verbringe ich in der netten Atmosphäre vor dem königlichen Lustschlösschen der Königin Anna, einem der gelungensten Renaissance-Bauten nördlich der Alpen. Zu meinem Vergnügen stelle ich fest, dass der singende Brunnen wieder Wasser führt, seine Stimme aber verloren hat. Egal, ich bin ja nicht zu meinem Vergnügen hier, sondern zum Käseschneiden (weich, hart, halbhart, blau, gelb, weiß, rot, orange). Ich kann die meisten Sorten sogar mit Vornamen ansprechen und kenne manchmal ihre Herkunftsregion. Verkaufs- und Beratungsgespräche führe ich in den meisten gängigen europäischen Sprachen (außer Russisch), wenn ich mir auch manchmal mit „mäh“, „bäh“ oder „muh“ behelfen muss, um die Herkunft des Grundstoffes zoologisch zu klassifizieren. Zugegeben, für einfache Gespräche reicht ein Wortschatz von ca. 20 Wörtern aus, Zahlwörter nicht inbegriffen. Die Außentemperaturen übersteigen 30°C, unter der Zeltplane staut sich bei Windstille etwas die Hitze.

Viel Wasser trinken

Während des Tages tanke ich vier bis fünf Liter Mineralwasser, ohne einmal auf Toilette zu müssen. An Fußball denke ich erst, als ich einen Dänen mit erstklassiger Ware versorge. Da fällt es mir wieder ein, dass abends ja noch ein Spiel ist. Der Däne will seine Ware darob zurückgeben, ich sage ihm, Pech gehabt, du hast schon bezahlt. Wir machen eigentlich nur ein bisschen Spaß, denn seit dem preußisch-dänischen Krieg 1864 herrscht zwischen beiden Ländern meines Wissens nach eine entspannte Atmosphäre, die auch die Rückgliederung von Nordschleswig nicht erschüttern konnte. Selbst im 2. Weltkrieg soll ja die Besetzung von Dänemark durch die Wehrmacht ein Freundschaftsspiel gewesen sein, so was wie „das Dritte Reich zu Gast bei Freunden“, wenn diese auch keine explizite Einladung ausgesprochen hatten.

Franzosen wundern sich über die Schweiz

Irgendwann erfahre ich zwischen 19 und 19.30h, dass die Schweiz 2:0 gegen Italien führt, was die beiden Franzosen in Erstaunen versetzt. Wer Deutschland ein Unentschieden abringt, hat sicher auch das Zeug, Italien, den Qualifikanten der letzten Aktion, zu besiegen. Am nächsten Tag sehe ich in der Zusammenfassung einige kuriose Szenen vor dem Tor von Sommer. Schär, dieser Teufelskerl von Abwehrrecke, scheitert diesmal am Pfosten, und kann sein Konto nicht auf zwei Eigentore aufstocken. (Ich schaue extra nach und bin enttäuscht, offiziell wird sein Tor als schottisches Tor, erzielt von einem McDingsda, geführt.) Allzu lange will ich mich gar nicht mit diesem Spiel aufhalten, denn um 20h muss der Verkaufsstand geräumt sein. Der Nordpark der Prager Burg ist militärisches Gelände und der oberste Hausherr, Präsident Pavel, ehemaliger NATO-General, da kann nicht jeder machen, was er will. Aber es zieht sich, bis wir endlich mit einer Kiste schmutziger Messer und Schneidbretter zum Laden kommen.

Spielunterbrechung in Dortmund

Ich kontrolliere auf meinem Handy den Spielstand, 0:0 und unterbrochen. Irgendwie verliere ich dann wohl den Faden, wir reinigen noch unser Werkzeug, nehmen noch einen zur Brust und dann vielleicht noch einen. Irgendwie erfahre ich, dass Deutschland 2:0 gewonnen hat, doch ich bekomme nichts zu Gesicht. Erst am folgenden Tag, da lässt mich meine Tochter bei weitem nicht so lange schlafen, wie ich es bedarf. Es sind die ersten großen Ferien in ihrem Leben, da hat sie noch nicht verstanden, dass man dann auch lange schlafen muss.

Schon wieder ein Tor aberkannt

Ich schaue also die Zusammenfassung und rege mich gleich über den Schiedsrichter auf. Nach drei Minuten köpft Schlotterbeck einen Eckball von Kroos ins Tor und der Pfeifenmann wird darüber informiert, dass man das Tor nicht geben darf, da die neue Regel besagt, dass Deutschlands erstes Tor aberkannt werden muss, sollte es sich dabei nicht um ein Eigentor handeln, aber selbst dann könnte noch Klärungsbedarf bestehen. Deutschland vergibt einen Haufen Torchancen und kassiert das 0:1. Abseits! Das nächste Mal die Zehennägel kürzer schneiden, dann wäre es vielleicht korrekt gewesen. Dann gleich darauf Hand! Elfer für Deutschland, Havertz macht den Lewandowski und tänzelt beim Anlauf wie ein Lipizaner in der Hofburg. Den Torwart, Schmeichel jr., kriegt er so nicht verladen, doch zum Glück ist sein Ball zu präzise und sitzt. Dann traut sich Schmeichel jr. bei einem langen Ball nicht aus seinem Torraum und lädt Musiala zum 2:0 ein. Wirtz macht sogar noch ein Tor, doch der Video-Assi hat wieder mal was dagegen. Was für ein Elend, diese Technik. Wenn sie dann mal da ist, wird sie auch genutzt, zurücknehmen kann man das nicht mehr. Da wird jetzt durch ein Richtmikrofon gemessen, ob die Hand den Ball berührt, ob der Ball dadurch ein Richtungsänderung erfährt, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Der dänische Trainer hat ja recht mit seiner Kritik, da sei gegen den Geist des Fußballs, aber die Entscheidungen waren nun mal korrekt und Deutschland weiter.

England und Spanien weiter

Sonntag verlief dann ähnlich wie der Samstag. Die grottigen Engländer springen dem Turniertod von der Schippe und besiegen die Slowakei mit 2:1 nach Verlängerung. Und Spanien hat nicht wirklich Probleme mit Georgien, auch wenn sie durch ein Eigentor früh zurück liegen. Es hilft nichts, Deutschland muss im Viertelfinale gegen Spanien ran. Noch schlimmer: Ich werde Zeit haben, das Spiel anzuschauen. Am allerschlimmsten: Ich weiß nicht mal, ob der Umstand mich besonders freut.

Rubrik: Sport, Fußball | 27. Juni 2024, 16:49 Uhr
Gerd Lemkes EM-Kolumne aus Prag (8): Ganz großes Kino sieht Gerd Lemke beim Überlebenskampf Tschechiens

Letzter Spieltag der Vorrunden, für die Slowaken (18h) und die Tschechen (21h) geht es um alles oder nichts in diesem Turnier, nämlich ums Weiterkommen. Pünktlich beende ich um 17h meine Arbeit in einem Außenbezirk Prags (vorletzte Metrostation) und möchte mich gemütlich ins Zentrum schaukeln lassen. Doch die Reise endet drei Stationen weiter: Streckenstörung, alle aussteigen, Ersatzbusse werden bereitgestellt. Allerdings ist noch nichts organisiert und niemand weiß, von wo die Busse abfahren. Dann gehe ich schon mal zu Fuß los, denke ich, die ungefähre Richtung kenne ich ja und schaue mal, wo ich eine andere Buslinie antreffen kann.

Faszination der Vorstadt

Mich faszinieren mal wieder die Außenbezirke der Großstadt, in denen alles auf den Autoverkehr ausgerichtet ist. Die Straßenbahnschienen sind noch nicht bis hierher vorgedrungen, nur die U-Bahn hat sich ihren Tunnel unter der Erde bis tief in die Hügellandschaft des mittelböhmischen Berglands gefressen. Ich finde die nächste Bushaltestelle und warte etliche Minuten, da kommt auch schon der erste Ersatzbus, in Dreierlagen stapeln sich die Angestellten der multinationalen Kooperationen, die ihre Administrationszentren in den Büroghettos der Außenbezirke betreiben. Ob da noch eine vierte Schicht drüberpasst? Oder man die Sitze doppelt belegt, wie das in einigen Kooperationen Mode geworden ist, um festzustellen, wer seinen Schreibtisch am effizientesten verteidigt? Geschenkt, ich gehe einfach eine Busstation weiter, bei 30°C in langer Hose und Hemd über einem T-Shirt, so mein selbst auferlegter Dresscode bei Kundenbesuchen. Ich sehe immer wieder Ersatzbusse in die Gegenrichtung fahren, neben den Bürosilos gibt es auch Wohnsilos, wohin diejenigen zurückkehren, die ihrem Broterwerb ausgerechnet im Zentrum nachgehen müssen.

Bürosilos und Wohnsilos nebeneinander

Irgendetwas mit der Verteilung von Arbeits- und Wohnplätzen läuft hier inkongruent, schließe ich daraus. Nur, wo bleiben eigentlich die Busse in Richtung Zentrum? An der nächsten Bushaltestelle fährt einer vorbei, macht sich erst gar nicht die Mühe, anzuhalten. Hier will sowieso niemand raus und die beiden Personen, die warten – ich und ein Mädchen mit hübschen Beinen in einem Sommerkleid – nehmen den regulären Linienbus, der quer zu den Hauptverkehrsadern die Hügel der Stadt auf- und niederfährt. Über das Sportgelände von Strahov geht es in mir wieder bekannte Gebiete der Stadt. Ich blicke besorgt auf die Uhr, der Anpfiff rückt bedrohlich nahe, die Nationalhymnen Rumäniens und der Slowakei werde ich wohl nicht mehr schaffen.

Pünktlich zum Führungstor

Als ich meine Irrfahrten endlich beende und glücklich im Hafen des heimischen Schlaf-, Arbeits-, Wohnzimmer mit angeschlossener Bibliothek lande und die Allzweckmaschine auf das Fußballspiel eingestellt habe, sehe ich in der Wiederholung gerade das 1:0 der Slowakei. Uff, gerade noch geschafft! Wie würden nun die Balkan-Brasilianer darauf reagieren, wie sie früher wegen ihrer Trikotfarbe genannt wurden? Mittlerweile spielt Brasilien ja nicht mehr brasilianisch und Rumänien ohne stilistischen Orientierungspunkt. Zumindest spielt Hagi wieder mit und Puskas jetzt auch, nur mit einer kleinen Namensanpassung an das Rumänische: Puşcaş. Was für ein Traumpaar, wenn sie nur zusammenspielen würden! Der Trainer lässt sie allerdings nur hintereinander spielen, vielleicht hebt er sich das als Überraschung für das weitere Turnier auf. Doch das ist bei diesem Spielstand für Rumänien beendet, es braucht ein Tor, sonst gibt es keine Gelegenheit mehr, das Traumpaar miteinander zu sehen. Das fällt aber bald durch einen Elfmeter. Beide Mannschaften legen noch einen ganz flotten Walzer aufs Parkett, erfrischt von einem heftigen Regenguss eines Sommergewitters.

Die Regenschlacht von Frankfurt

Frankfurt – das am Main – ist der Austragungsort. Da war doch mal was, Stadion, Regen, ein großes Turnier in Deutschland, ein verschossener Elfmeter von Uli Hoeness (nicht der von Belgrad; der Uli war Mehrfachversager). Da kommen Erinnerungen hoch, die ich gar nicht haben kann, denn damals hat mich Fußball im Fernsehen nur höchst perifer interessiert.

Irgendwann hört es dann auf zu regnen und beide Mannschaften streben nach dem erfrischenden Bad nicht mehr mit letzter Konsequenz auf den Siegtreffer. Warum auch, da sich im Parallelspiel nichts tut, sind beide weiter, das wäre auch der Fall, wenn sich etwas täte, was aber nicht geschieht. So sind nach Schlusspfiff alle zufrieden. Den Gruppensieger Rumänien erwarten zum Dank die Niederlande im Achtelfinale, den Gruppendritten Slowakei England. Belgien kommt auch weiter und spielt dann gegen Frankreich Irgendwie ist es egal, von welchem Platz man sich in dieser Gruppe qualifiziert, ein großer Fisch wartet auf jeden. Nur die Ukraine muss nach Hause fahren, was man angesichts der politischen Lage nicht unbedingt zu wörtlich nehmen muss. Mit vier Punkten auszuscheiden verdient sicher nicht die Höchststrafe, anschließend an die Front rücken zu müssen.

Topfavoriten mit Torverhältnis 2:1

Belgien hat übrigens dasselbe Torverhältnis wie Frankreich und England aufzuweisen, nämlich 2:1. Zählen wir mal spaßeshalber ein paar Topstürmer aus deren Reihen auf: Lukaku, Mbappé, Dembelé, Kane oder die Mittelfeldunterstützer de Bruyne, Griezmann, Bellingham. In insgesamt neun Spielen bringen deren Mannschaften sechs Tore zustande, darunter ein Eigentor, ein Elfmeter (beide Frankreich). Beeindruckende Bilanz. So spielen die zukünftigen Champions, fürchte ich.

Tod oder Gladiolen

Abends geht es dann weiter. Für Tschechien ist jegliches Taktieren ausgeschlossen, „Tod oder Gladiolen“, wie es ein niederländischer Fußball-Entertainer („das Feierbiest“) mal auf den Punkt gebracht hat. Entsprechend legen die Tschechen das taktische Korsett vom Anpfiff an ab und es entwickelt sich ein heißer Tanz gegen die Türkei, zugespitzt von dem Umstand, dass Georgien im Parallelspiel gegen Portugals B-Elf gleich in Führung geht. Die Türkei könnte auf den letzten Gruppenplatz zurückfallen und nach Antalya an die türkische Riviera zum Badeurlaub fliegen.

Der direkte Vergleich

Da ist es wieder, das Gespenst des direkten Vergleichs. Es muss wohl ein Weltturnier gewesen sein, organisiert von dieser noch größeren Fußballmafia als der Uëhfah, könnte 2010 gewesen sein. Da häuften sich diese bedeutungslosen letzten Gruppenspiele für Mannschaften mit zwei Siegen und dem Gruppensieg in der Tasche. Alle ließen ihre B-Elf auflaufen, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Motivation. Als Ergebnis ergab sich eine massive Wettbewerbsverzerrung, weshalb die Fußballmafia wieder zum guten alten Prinzip des Torverhältnisses als Unterscheidungskriterium bei Punktgleichheit zurückgekehrt ist. So zumindest erinnere ich mich, aber mein Gott, wo überall will man laut seinem Gedächtnis dabei gewesen sein – oder schlimmer noch, nicht dabei gewesen sein.

Portugal könnte sein Abschlussspiel 5:0, nein, sogar 10:0 verlieren und wäre so immer noch Gruppensieger. Was wiederum gut für die spektakulärste Mannschaft des Turniers, für Georgien ist, die nach einem 2:0 ins Achtelfinale einzieht (Gegner: Spanien). Damit ist – so viel sei schon mal verraten – Ungarn auch ausgeschieden und einer ganzen Fußballregion, nämlich Mittelosteuropa, droht in diesem Turnier der Kahlschlag.

Böse Erinnerung an 2008

Tschechien gegen die Türkei, das ging schon mal schief, bei der Eh Em 2008, nämlich für Tschechien, das einen sicher geglaubten Sieg nach einem groben Torwartfehler und einem weiteren Gegentor in der Nachspielzeit aus der Hand gegeben und damit das Weiterkommen weggeworfen hat. Ach ja, die Erinnerung... Was ist aus dem Torwart noch mal geworden? Richtig, er hat das Fach gewechselt und macht jetzt in Eishockey.

Baránek heißt er, ist Bademeister und auch sonst kein Kind von Traurigkeit. Nach 20 Minuten und zwei ebenso unnötigen wie dämlichen Fouls schickt ihn der Pfeifenmann unter die Dusche. Jetzt sind es nur noch zehn Tschechen, die auf Sieg spielen müssen. Und das auch noch ohne Stürmerstar Patrick Schick, der verletzt und maulend auf der Bank sitzt. Trotzdem holt er sich irgendwann eine gelbe Karte ab und ist für das nächste Spiel gesperrt, für das sich die Mannschaft sowieso nicht qualifiziert.

Fatale Torwartparade

Dann passiert auch noch folgendes, der tschechische Torwart kugelt sich bei einer prächtigen Parade die Schulter aus, der Ball landet aber nicht im Aus, sondern bei Calhanoglu (man erspare mir hier die Sonderzeichen im Namen), der ihn in die lange Ecke zielt. Der verletzte tschechische Tormann versucht mit dem Bein noch zu retten, was nicht mehr zu retten ist und muss dann runter. 0:1, einen Mann weniger und mit dem Ersatztorwart, der diese Rolle von Bayer Leverkusen kennt, im Kasten. Die Comeback-Qualitäten des frischgebackenen deutschen Meister sind jetzt gefragt. Und Tschechien schafft tatsächlich den Ausgleich! In einer etwas unübersichtlichen Situation vor dem türkischen Tor setzt jemand den, ich glaube, zweiten Nachschuss ins Netz. Geht da noch was? Der eine Jiránek geht, der andere kommt und geht gleich frech ins Dribbling. Tschechien gibt alles und nicht auf, aber in den entscheidenden Momenten verspringt dem einen der Ball, dem anderen misslingt der Abschluss und tief in der Nachspielzeit endet ein türkischer Konter im Netz. Ein bravouröser Kampf endet bitter. Geschlagen, aber erhobenen Hauptes marschiert die tschechische Mannschaft vom Feld. Tatsächlich, ein tschechischer Spieler sieht noch nach dem Schlusspfiff die rote Karte, für den ist das Turnier jetzt aber so was von zu Ende!

Rubrik: Sport, Fußball, Panorama | 25. Juni 2024, 17:54 Uhr
Gerd Lemkes EM-Kolumne aus Prag (6): Gerd Lemke freut sich über einen freien Montagnachmittag

Kroatien gegen Italien, das klingt schon nach einem k.o.-Spiel, auch wenn es sich noch um ein Gruppenspiel handelt. Kroatien muss einfach gewinnen, dann ist es durch, wahrscheinlich als Gruppenzweiter. Italien reicht hingegen ein Unentschieden, die Konstellation ist glasklar und der Gegner für das Achtelfinale steht für eines der beiden Teams auch schon fest: die Schweiz.

Italien lässt kalt

Es gab mal Zeiten und Turniere, da hätte dieses Spiel Emotionen bei mir ausgelöst. Italien vielleicht schon in der Vorrunde raus? Das wäre, ja wäre eine tolle Sache. Aber, Hand aufs Herz, das wird nicht geschehen. Solch ein Spiel verliert Italien nicht. Und dann kam 2010, ein Spiel gegen die Slowakei und ein Tor des Bundesliga-Stürmers Vitek vom 1.FC Nürnberg und der Titelverteidiger war draußen. Danach kamen noch zwei verpasste WM-Qualifikationen, ein deutsches Weiterkommen gegen Italien in einem k.o.-Spiel (hatte es zuvor nie gegeben), natürlich auch eine gewonnene Eh-Em, die von 2020, ausgespielt 2021 – und Italien lässt mich mittlerweile kalt.

Kroatische Kommunität verschwunden

Ich versuche sogar einen geeigneten Platz fürs öffentliche Zuschauen zu finden, habe aber keinen Erfolg. Die einst gar nicht so kleine kroatische Kommunität in Prag 7 ist nicht mehr aufzufinden, deren Versammlungsorte mit Bierausschank sind teilweise ganz verschwunden und mit den vorgefundenen Visagen, hinter denen ich Interesse an dieser Begegnung vermute, möchte ich mich lieber auf keine emotionale Achterbahnfahrt begeben. Meine Tochter, der ich vielleicht ein wenig Interesse hätte abgewinnen können, ist im Schullandheim, also nicht in Prag und deren kroatische Mutter wie meist desinteressiert im Bett. Mit ihr hätte ich sowieso nicht geschaut.

Ich schaue also zu Hause an dem Allzweckgerät und sehe haargenau das erwartete Spiel. Kroatien bemüht im Vorwärtsgang, Italien defensiv und auf gelegentliche Konter lauernd. Kurz wird Spaniens Siegtor gegen Albanien eingeblendet, womit klar ist, dass sich die Dramaturgie des Abends ausschließlich auf Kroatien und Italien verengt.

Italien – Kroatien 1942

So interessante wie nützliche Informationen, dass Italiens einziger Sieg gegen Kroatien aus dem Jahr 1942 stammt und die meisten Spiele gegeneinander Unentschieden enden, sorgen für etwas Kurzweil in dem Geschehen. 1942 war die faschistische Welt noch in Ordnung, da konnten anscheinend ein paar Länder in Länderspielen noch Normalität im Weltkriegsgeschehen simulieren. Im Winter kam dann Stalingrad und das Aus der braunen Weltherrschaftsträume. Heute sind Italien und Kroatien, frei nach Gerhard Schröder – spielte auch seine Rolle als großer Fußballfan - vorbildliche Demokratien, der Fußball frei von Doping und das Fußballgeschäft über jeglichen Verdacht der Korruption erhaben.

Modrić macht's nicht und dann doch

Wie dem allem auch sei, Kroatien geht Mitte der zweiten Halbzeit in Führung. Modrić verschießt einen Handelfmeter, mir war gleich unwohl, als ich sah, dass er antrat, da war doch schon mal was, 2016, glaube ich, ein verschossener Elfmeter und dann doch das Siegtor – oder war das 2018? Egal, Modrić macht es noch einmal genauso und schießt Kroatien eine halbe Minute nach dem Elferfehlschuss ins Achtelfinale. So hoffen zumindest die Kroaten. Italien wechselt augenblicklich die Taktik und greift an. Wie von der Leine gelassene Bluthunde jagen sie auf das Tor zu. Kein Wunder, der Trainer hat ihnen ja wahrscheinlich seit der zweiten Halbzeit des Albanien-Spiel das nachhaltige Spiel nach vorne strengstens verboten. Etliche vogelwilde Szenen im kroatischen Strafraum lassen erahnen, dass das nicht bis zum Ende gut gehen kann.

Modrić geht, Majer kommt

Auch dieses Spiel beruhigt sich nach einer Weile etwas und Kroatien steht wieder sicherer. Dann geht Modrić runter, Majer kommt, um den Vorsprung über die Zeit zu bringen. Das Ende vom Lied, natürlich trifft Italien doch noch, und – wie kitschig das auch immer ist – das mit der allerletzten Aktion. Wieder lässt sich Kroatien am Ende die Butter vom Brot nehmen. Ich denke an den Spruch, der Rumäne ertrinkt immer am Ufer. Doch diesmal nicht nur der. Die Kroaten sollten sich aber die ernsthafte Frage stellen, wie es sein kann, dass man sich in einem Spiel, in dem es nur noch darum geht, etwas Zeit von der Uhr zu nehmen, auskontern lassen kann? Unfassbar! Im Achtelfinale spielt die Schweiz gegen Italien und Kroatien ist ausgeschieden – zwar noch nicht rechnerisch, aber bei 2 mickrigen Pünktchen und -3 Toren hoffen wohl nur noch die Augenzeugen Jesus Auferstehung auf ein Weiterkommen.

Rubrik: Sport, Fußball | 19. Juni 2024, 08:24 Uhr
Gerd Lemkes EM-Kolumne aus Prag (2): Frankreich – Österreich 1:0, Georgien – Türkei 1:3, Portugal – Tschechien verleiten Gerd Lemke zu grundsätzlichen Gedanken

Montagabend, die Aufholjagd ist vollendet und der hiesige Chronist der Eh-Em 2024 hat den Anschluss an die Gegenwart geschafft. Das ist auch bitter nötig, denn dann spielt Frankreich mit Sprint-Superstar Mbappé, dem hinterherzuhecheln ein schier aussichtsloses Unterfangen darstellt. Der pfeilschnelle Franzose hat ja Interesse bekundet, auch an den Olympischen Spielen in seiner Heimatstadt teilzunehmen. Doch sein zukünftiger Brötchengeber will das nicht zulassen, nicht einmal auf den 100m flach ohne Ball, Gegenspieler und Stollen am Fuß. Mein Gott, ihr Königlichen aus Madrid, das wäre nun wirklich kein Problem. Mbappé sprintet ein paar Mal, dekoriert seinen Hals mit Edelmetall und ist noch vor dem Zapfenstreich wieder im Trainingslager zurück. Ich finde das nun echt kleinlich.

Deschamps-Fußball

Ach ja, da ist ja auch noch das Fußballspiel, bei dem es mich nirgends anders hin verschlägt als auf mein Allzwecksitzmöbel vor die Allzweckmaschine namens Laptop. Am Anfang ist meine Aufmerksamkeitsspanne am höchsten und baut mit zunehmender Spieldauer ab. Ich frage mich gegen Ende sogar, ob sich das Zusehen noch lohnt. Ähnlich wie das England-Spiel vom Vortag versandet der Spielfluss im Unwillen auf der anderen und Unvermögen auf der einen Seite. Kaum ein enger Zweikampf geht ungepfiffen durch. Letztendlich entscheidet ein unglückliches Eigentor und der Titelfavorit beginnt das Turnier mit einem Sieg.

Duchamp-Kunst

Ja, so ist er, der Deschamps-Fußball, so war er auch schon als Spieler. Wenig Genuss für den neutralen Zuschauer, reine Zweckmäßigkeit und Erfolgsorientierung. Vorne stehen ein paar Fummel- und Sprintkönige, die irgendetwas Zählbares rausholen, hinten steht eine geballte Defensivathletik, gegen die es für einen Gegner wie Österreich kein wirkliches Durchkommen, nur ein stures Anrennen gibt. Fußball wie das Pissoir des beinah Namensvetters Marcel Duchamp. Das schaut man sich einmal an und hat es begriffen. Solche Kunst hängt sich keiner in sein Wohnzimmer. Niemand stellt sich stundenlang ins Museum und betrachtet es von allen Seiten. Oder können Sie sich vorstellen, dass jemand extra früh ins Museum geht, um den Schwung des Schattenwurfs der Pissoirrundung auf die Abrinnlöcher kurz nach Sonnenaufgang mit dem weicheren Licht am Abend zu vergleichen, und befriedigt feststellt, dass die Urinmuschel am Nachmittag einen fast schon kühn zu nennenden Spiegelungswinkel erreicht, in dem das Lächeln der Mona Lisa ausgesprochen frivol reflektiert würde? Das als Kunst deklarierte Pissoir reicht eigentlich nur für einen Schenkelklopfer, doch die Wirkung auf den Fortgang des Kunstgeschehens war natürlich frappant. Ohne das Urinal keine Fettecke von Beuys, wage ich zu behaupten. Die würde ich mir übrigens auch nicht ins Wohnzimmer hängen, nicht mal geschenkt.

Kinder und moderne Kunst

Mit der modernen Kunst ist es ja sowieso so eine Sache. Vor ein paar Wochen nahm ich meine Tochter mal mit auf eine Vernissage (sie hätte damals noch in der F-Jugend spielen können). Der mir persönlich bekannte Galerist fragte sie mit erwartungsvollen Augen, wie ihr denn die Bilder gefielen? Sie antwortete etwas wie „čmáranice“, was ich getrost mit „Schmiererei“ übersetzen darf.

„Ach du hast ja noch keine Ahnung! Das ist doch ein akademischer Maler!“, entrüstete sich der Galerist und wandte sich schroff ab. Nun stelle man sich vor, ich würde meiner Tochter auch noch das Duchamp-Pissoir zumuten und sie fragen, wie ihr das gefalle... So ist es auch besser, dass ihr zartes Pflänzchen des Fußballinteresses nicht mit Deschamps-Fußball (übersetzt übrigens: von den Feldern) gedüngt wird und sie beim Abendspiel altersgerecht im Bett liegt und schläft. Wohin ich mich nach Abpfiff übrigens auch zügig begebe (natürlich in mein eigenes).

Zu müde für das Abendspiel?

Am folgenden Tag bangt ganz Frankreich angeblich um Mbappés Nase, die er sich gegen Ende des Spiels blutig an der Schulter eines kantigen GegenspielerS gestoßen hat. Ich hingegen rede mit meinem Studenten über Jahreskartenpreise des FK Hradec Králové und dessen Transferperspektiven. Die Stadt ist als Königgrätz in der Geschichte zum Austragungsort einer grausamen Schlacht zwischen den Preußen und Österreichern bekannt geworden, worauf Bertha von Suttner die Friedensbewegung gegründet hat. Wir einigen uns auch darauf, dass das schottische Foul an Gündogan zurecht mit glatt Rot bestraft wurde. „Vor 30 Jahren war das gang und gäbe“, höre ich, „Roy Kean hat so den Vater von Haaland bearbeitet.“ Die Schotten spielen also den Fußball von vor 30 Jahren, schließe ich daraus, so hat das dann auch ausgesehen.

Bei den Aussichten für das tschechische Team landet mein Gesprächspartner in der Vergangenheit. „1996, war da der Nedvěd schon bei Lazio? Šmicer hat da noch bei Slavia gespielt und Poborský noch in der tschechischen Liga.“ Ich lasse die Vermutungen ungeprüft, halte mit meiner Meinung aber hinter dem Berg. Schließlich basierte der Erfolg 1996 auf 90% Antifußball und einigen lichten Momenten. Ausgerechnet im Endspiel gegen Deutschland sah das besser aus, doch das Spiel ging wegen Oliver Bierhoff verloren. Noch so ein anti-Fußballer, denke ich, der den Fußball nie geliebt hat, vor allem nicht als Funktionär. „2004, das war eine Mannschaft, bei welchen Vereinen die Spieler das gespielt haben! Und heute? Nein, ich schaue mir das Spiel gar nicht an. Ich habe viel zu arbeiten und stehe früh auf. Es ist besser, um neun Uhr schlafen zu gehen.“ Ich appelliere vehement ein das nationale Gewissen, „das geht nicht, du kannst doch nicht einfach ins Bett gehen, wenn Tschechien spielt“. „Na ja, vielleicht schaue ich die erste Halbzeit. Dann steht es 3:0 für Portugal und ich gehe ins Bett.“ Zum Abschied drücke ich fest die Hand, schaue streng in die Augen und ermahne nachdrücklich. „Schau das Spiel an!“

Freier Nachmittag

Ich empfinde ein großes Glück, als ich erfahre, dass es kein Nachmittagsspiel gibt. Ich habe frei! Und kann etwas für einen meiner drei Jobs machen, vielmehr für einen potentiellen vierten. Das will mir zwar nicht wirklich flott von der Hand gehen, doch ich beschließe, dass das reichen muss. Was gibt es eigentlich am Vorabend? Türkei – Georgien, zwar zögere ich zunächst, doch dann entscheide ich: Wer weiß, wie oft wir Georgien noch bei einer Eh-Em sehen können? Da soll ja so ein Mega-Mogul nach der absoluten Macht streben, nach dem Vorbild Russlands und der Junta im Kreml. Das Ergebnis wird eine georgische Diaspora sein, möglicherweise der Anschluss an den nördlichen Nachbarn oder ein Anschluss an den asiatischen Fußballverband. Nein, ich muss mir das anschauen.

Spektakel aus Klein-Asien

Und das geht dann gleich los wie die Feuerwehr, in beiden Strafräumen brennt's lichterloh. Schönes Tor der Türken, dann gleich noch eins, das Ding ist durch, denke ich. Der Video-Assi zieht unerbittlich seine digitale Linie und der vermeintliche Torschütze steht einen halben Fuß im Abseits. Kein Tor. Trotzdem wirkt Georgien erst angeschlagen, dann schlagen sie plötzlich zurück, all die -vilis, die mich an Kobyashvili, Iashvili, noch einen -vili und Tobias Willi in Freiburg erinnern. Das muss noch in der Ära Volker Finkes gewesen sein, als plötzlich drei Georgier in der Bundesliga auftauchten. Und hat nicht Dynamo Tiflis in den 1980er Jahren mal den Europapokal der Pokalsieger gegen Carl Zeiss Jena gewonnen? Ja, das waren noch Zeiten, als der Fußball viel langsamer gespielt und die Spiele viel seltener gezeigt wurden. Die goldenen Zeiten, als ein Kung-Fu Sprung von Harald „Toni“ Schumacher in seinen Gegenspieler kaum als Foul, geschweige denn als Platzverweis wahrgenommen wurde, und Goicochea (nicht der argentinische Torwart, sondern der baskische Verteidiger) zum Volkshelden aufstieg, nachdem er erst Diego Maradona, dann Bernd Schuster für Monate ins Verletztenlazarett getreten hatte.

Nur nicht einschlafen!

Die Gedanken schweifen ab und die Augen drohen mir trotz dem Hin- und Her zuzufallen, mit verschwommenem Blick sehe ich ich den Namen des türkischen Torschützen, Gerd Müller lese ich, nein, das kann nicht sein. Mert Mülür heißt er. Zum Glück vertreibt mir das Geschehen auf dem Platz die Müdigkeit, in der zweiten Hälfte entwickelt sich das bis dato spektakulärste Spiel des Turniers. Vergiss England, vergiss Frankreich, Türkei gegen Georgien ist das Highlight des Turniers. Reals Juwel Gülen bringt die Türkei wieder in Führung, mit einem herrlich Schuss aus gut 20 Metern. Gleich danach kann die Türkei erhöhen, doch wenige Zeigerumdrehungen später haben sich die Georgier den Ausgleich verdient, doch leider nur Latte. Willy „Halbfeldflanke“ Sagnol ist doch tatsächlich Trainer in Georgien und schickt neue Kräfte aufs Feld. Weitere Chancen wechseln hin und her. In der Nachspielzeit hat Georgien gleich zwei Mal den Ausgleich vor Augen, doch der Pfosten und ein Verteidigerkopf stehen im Weg. Der knapp zwei Meter große Torwart tummelt sich beim Eckballfeuerwerk vor dem Fünfer, aber der andere Torwart faustet den Ball aus der Gefahrenzone und ein Türke marschiert auf das verwaiste Tor, die Entscheidung. 3:1! Dem tschechischen Co-Kommentator rutscht bei diesen Leistungen das Herz aus der Hose in die Socken, ich bin sicher, dass die halbe fußballinteressierte Nation bereits auf Knödeln im Beinkleid hockt. Gegen diese Mannschaften müssen die Tschechen ja auch noch spielen! Nicht nur gegen Cristiano Ronaldo und seine Kumpane!

Sich selbst klein machen

Ja, da schaue ich mir tatsächlich das Süiel zu Hause an. Die Mutter meiner Tochter hat wieder einen Grund gefunden, rauszugehen (kein Saft im Haus), ich übersetze meiner Tochter das, dass ihre Mutter weg will. Sie hat ja wieder Tage lang mit vorgeblichen Halsschmerzen und sogar Fieber im Bett verbracht, nun ist wieder Zeit, das frisch erworbene Wohlergehen wieder zu ruinieren. Ich höre diesmal sogar die Nationalhymne und stelle fest, dass die portugiesische um einiges anspruchsvoller zu singen ist und man sie umso weniger von Fußballspielern intoniert hören möchte. Das Spiel an sich ist nichts besonderes, die Tschechen überlassen Portugal die Initiative. Portugal kommt zwar zu ein paar Torannäherungen, doch ich kann mich – im Gegensatz zu den Kommentatoren – des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mannschaft ohne Ronaldo besser wäre. Der hat zwar seine Szenen, doch wirkt das auf mich gehemmt. Ich bin mir sicher, das portugiesische Spiel könnte ohne ihn flüssiger und schwerer auszurechnen sein. Wie alt ist er denn jetzt? 39? War er schon vor 20 Jahren dabei? Ich denke, ja, bei der Eh-Em in Portugal, doch damals wohl eher auf der Ersatzbank. Damals war noch Luis Figo der große Spieler. Man müsste mal Pepe fragen, der sollte das wissen, ist ja schließlich noch älter als CR7.

Was für eine Tragödie

Zweite Halbzeit, erst mal alles beim Alten. Ronaldo legt sich einen Freistoß zurecht – ich kann mich an kein einziges Spiel erinnern, in dem er einen Freistoß verwandelt hat – natürlich nichts. Hart auf's Tor geschossen, aber unplaziert, halbhoch dazu noch, da helfen nicht mal die Platzverhältnisse nach dem strömenden Regen. Und dann höre ich ihn, ich weiß nicht, woher er kommt, der Jubel, und dann sehe ich den Grund: Tschechien schießt ein Tor, nahezu aus dem Nichts. Wiederholt sich 1996? Ein paar Minuten später ist klar: Nein. Diesmal höre ich nichts, aber sehe, was den Zuschauern beim public viewing die Stimme verschlägt. Der tschechische Torwart hält gut, doch lenkt er den aufgesetzten Ball gegen das Bein des nachlaufenden Verteidigers. Ausgleich nach Eigentor. Na ja, denke ich, mit einem Unentschieden sind beide doch zufrieden. Doch es kommt in diesem Regenspiel noch zum Nackenschlag. In der Nachspielzeit kommt eine Flanke von links nach innen, der Verteidiger ist da, aber trifft den Ball nicht sauber, sondern stoppt ihn für den nachrückenden portugiesischen Stürmer, 2:1. Ein halbes Eigentor. Wie bitter. Aber noch ist nichts verloren, schließlich kommen die vier besten Gruppendritten auch weiter. Und damit schließe ich den ersten Gruppenspieltag ab, alle haben sich gezeigt und am folgenden Tag geht es einfach weiter. Wie Oliver Kahn einst sagte: Weiter, weiter, immer weiter.