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Der Autor

Gert Loschütz wurde als "der David Lynch unter Deutschlands Romanautoren" bezeichnet, viele seiner Texte thematisieren das Unheimliche. Er wird aus seinem hoch geschätzten Roman Dunkle Gesellschaft lesen, für den er 2005 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt wurde. Er ist auch Verfasser von zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Fernsehspielen.

Gert Loschütz wurde 1946 in Genthin (Sachsen-Anhalt) geboren, 1957 übersiedelte die Familie nach Hessen. 1968 wurde er zur Tagung der Gruppe 47 auf Schloss Dobříš eingeladen, die jedoch wegen des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes nicht stattfinden konnte. Gert Loschütz lebt in Berlin.

​Im November 2016 ist er Stipendiat des Prager Literaturhauses.

 

 

Bildnachweis:
Björn Steinz
| | | 6.11.2016

5. November 2016

1.

Das von den Spaziergängern auf dem Uferweg immer wieder fotografierte Haus mit der verspielten Jugendstilfassade, auf der zwischen den Fenstern des ersten und zweiten Stocks in goldenen Buchstaben das Wort Hlahol prangt, die altslawische Bezeichnung für Huldigungs- oder Festlied, die (wie ich nachgelesen habe) zum Namen des 1861 zur Förderung der nationalen Bestrebungen gegründeten und seit 1905 in diesem Haus ansässigen Gesangvereins wurde -

         Es ist eines der Häuser (stellt man nach ein paar Tagen fest), bei denen man nicht weiß, wo sie anfangen und aufhören, auf so viele Nebentreppen, Halbaufgänge, Schächte und geschlossene, scheinbar zu einem Seitenflügel führende Türen trifft man, und schaut man beim Treppenhochsteigen durch eines der zum Hof zeigenden Fenster, weiß man nicht, ob es sich bei dem Gebäude, das man sieht, um das Gartenhaus handelt oder schon um die Rückseite des parallel verlaufenden Straßenzugs.

         Klar ist nur, dass die Wohnung mit den saalhohen Zimmern, den zweiflügligen Türen, dem alten Eichenparkett, den zur Moldau hin zeigenden Fenstern und den kleinen nach dem Herausreißen der Kachelöfen aufgestellten Gasöfen bessere Zeiten erlebt hat - herrschaftliche. Seltsam aber, nichts Gutes verheißend, die dicke Polsterung der Eingangstür, die man von Filmen her kennt, mit braunem Leder bezogener Schaumstoff oder Filz, der die Schreie der gegen ihren Willen hier Festgehaltenen dämpfen soll. Oder aus Arztpraxen, in denen das Schmerzstöhnen der Patienten nicht auf den Flur, ins Wartezimmer hinaus, an die Ohren ihrer Leidensgenossen dringen darf - Karbolsäure, Äther, unterarmlange Spritzen, Elektroschocks; die dunklen zwanziger bis sechziger Jahre. Wie? Vierzig Jahre Schrecken? Ja. Mit Unterbrechungen noch länger, bis neunundachtzig.

 

Ein auf Augenhöhe vorbei fliegendes Schwanenpaar, wie manchmal am Bonhoefferufer in Charlottenburg, nur dass man da bei offener Balkontür noch das Sausen der Schwingen hören konnte, das hier vom Brausen des Wehrs überdeckt wird.

Bei der Rückkehr gestern Abend hinter der Tür auf halber Treppe die Gesangsbögen eines Mezzosoprans, und heute Nachmittag aus der Wohnung unter mir Klavierübungen: ein musikalisches Haus, noch immer, und nicht nur wegen der an die drei Dirigenten Smetana, Bendl und Knittl erinnernden Gedenktafeln mit den aus der Wand hervortretenden Köpfen an der Hausfassade.

Auch das ist natürlich möglich: dass die Türdämmung angebracht wurde, damit sich die anderen Hausbewohner nicht von der Musik belästigt fühlen. Ein Flügel also, vielleicht stand in dem Zimmer, das ich für die Zeit hier zum Arbeitszimmer erkoren habe, ein großer Flügel, ja, es wurde Klavier gespielt, und aus dem Fenster lehnte sich ein mit einem leichten Sommerkleid angetanes Mädchen und winkte zur Slaweninsel hinüber.

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