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Der Autor

Carla Bihl, Jahrgang 1994, studiert an der Prager Karls-Universität Germanistik. Ihre Heimatuniversität ist in Freiburg, wo sie Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Neuere deutsche Literatur sowie Kulturanthropologie studiert.

In ihrer Freizeit testet sie gerne alle möglichen Bars, besucht Kinos und erkundet ihre Umgebung. Sie liest zudem sehr gerne und viel. Hiervon möchte sie in ihrem Blog berichten.

Für prag aktuell ist sie seit Oktober 2017 als Redakteurin tätig und bloggt über ihre Erlebnisse.

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Das Theaterstück: "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs."

Ein Weg in Richtung Solidarität?

Zugegeben: Vom modernen Theater habe ich nur wenig Ahnung. Dennoch lockt mich der Gedanke. Gefallen hat mir das Ganze ja schon immer: Sitze mit rotem Samtüberzug, goldene Balkone, ein roter Vorhang und die wunderschöne Protagonistin, der am Ende ihrer Vorstellung Blumen zugeworfen werden, die sich verneigt und folgt in ihrer Biografie schreibt, sie lebe vom Applaus der Zuschauer.

Doch bevor mir der moderne Theaterkenner nun mentale Buhrufe zuschreien will, eines vorab: Schon klar, dass sich das Theater mit den Jahren, Jahrzehnten, wahrscheinlich Jahrhunderten stark veränderte, psychologischer wurde, zu etwas wurde, bei was sich die Zehntklässler des städtischen Gymnasiums bei der Neuinszenierung von Emilia Galotti an den Kopf fassen und sagen: „Was denn das?“ Symbole, Sinnbilder, bildliche Metaphern finden Gebrauch. Da ist die Bühne plötzlich gar nicht so dermaßen geschmückt, wie man sich das bei der Lektüre der Dramenvorlage des gelben Reclam-Heftchens vorgestellt hat. Dann sind da möglicherweise nur zwei graue Wände, nur eine Person, die mechanisch gekonnt, monoton einen Monolog herunterrattert. Und dann soll dem noch eine Bedeutung innewohnen? Okay, ich habe verstanden. Ich habe tatsächlich nicht viel Ahnung von Theater, geschweige denn von den Inszenierungen des modernen Bühnenspiels. Probieren will ich es trotzdem noch einmal. Vielleicht ist der Mensch manchmal so sehr von stereotypen Vorstellungen eingenommen, dass er es einfach nicht schafft, sich auf Neues einzulassen.

Zum Stück: Es fand im Prager Theater Archa statt. Als wir in die Halle kamen, machte sich das Geräusch von Regen bemerkbar. Auf dem Boden lag Müll. Was? Ja tatsächlich. Die Bühne – und hier gelangen wir wieder an unsere Grenzen, denn eigentlich war es weniger eine Bühne, als vielmehr der Platz vor der Aufstuhlung – war voll mit Müll. Es lagen alte Lampen, ein Plastikgartenstuhl auf dem Boden. An einem Kriegsschauplatz erinnerte es, an eine Müllhalde, irgendwie auch an eine Messiewohnung und zuletzt an das Chaos. Es war einfach das Chaos. Ich stellte mich darauf ein, bereitete mein Gehirn darauf vor, mich unzähligen Interpretationen unterwerfen zu müssen. Ist das im modernen Theater denn nicht so? Das Licht wurde gedämmt. Hinter dem chaotischen Schauplatz war eine Leinwand angebracht worden. Eine Person betrat sodann die Bühne, setzte sich an einen Tisch, hinter das bereits beobachtete Chaos und stellte etwas ein. Ich war mir nicht sicher, ob sie eine schauspielerische Rolle im Stück tragen sollte oder ob sie lediglich für technische Arbeiten gedacht war. Dann erschien jedoch ihr Gesicht auf der Leinwand. Die junge Frau sprach in die Kamera. Als Consolate Sipérius stellte sich die Frau mit dem kurzen Haar und der dunklen Haut vor, und dass sie adoptiert wurde und dass ihre Eltern Opfer des Genozids in Ruanda wurden und dass sie, als sie vier Jahre alt war, in ein Gebüsch flüchtete, als ihre Eltern vor ihren Augen erschossen wurden. Die Frau erzählte ihre Geschichte. Sie sprach von ihren Adoptiveltern, von ihrem Leben, von Rassismus und Mitleid. Mitleid: War da nicht was? Das Bild auf der Leinwand verschwand langsam, aber Consolate blieb sitzen, als die weiße Frau mit blondem Haar und blauem Kleid die Bühne betrat.

Es begann der fiktive Monolog jener blonden Entwicklungshelferin. Manchmal sprach sie uns an, stellte uns fragen, aber antworten mochten wir nicht. Wie sehr kann eine vierte Wand durchbrechen? Komplett, wie ich sehen konnte, denn Ursina Lardi, die Schauspielerin, die Frau im blauen Kleid, begann über das Stück selbst zu reflektieren. Es war ein Spiel mit dem Publikum, und meine geliebte Distanz vom klassischen Theater, von der Guckkastenbühne, war verschwunden. Ich fühlte mich schuldig, als sie das bekannte Bild des kleinen ertrunkenen Jungen mit rotem T-Shirt und blauen Jeans hochhielt, dessen toter Körper an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Ich denke, dass jeder im Raum jenes Bild kannte. Die Protagonistin allerdings suggerierte ihre Unkenntnis. Ob ich Mitleid hatte? Ja.

2015 überwältigte das Schicksal unzähliger geflüchteter Menschen den gesamten europäischen Kontinent. Wir kennen sie alle, diese Bilder, von Facebook, TV und Zeitung. Und tatsächlich begegnen wir dem mit mehr Distanz, als es uns bei diesem Theaterstück nur möglich scheint.

Die Darstellerin erzählte, sie sei die Mittelmeerroute, Balkanroute abgereist. Die Frau mit dem blonden Haar und der zierlichen Statur wirkte stark und zugleich zerbrechlich, was nicht zuletzt immer wieder der Mischung ihrer Gefühle aus der Unfähigkeit angemessen auf Tragik zu reagieren und ihren Emotionsausbrüchen, die letztlich wieder in vermeintlicher Gefasstheit endeten, zu verschulden war. Sie wirkte sarkastisch, als sie sagte, die Syrer sähen aus wie Hipster. Es funktionierte wie eine Provokation aber auch wie ein Abwehrmechanismus. Und man entwickelte eine Abneigung gegen jene Frau. Wie ist es möglich Leid nicht zu sehen, wenn man es doch direkt vor Augen hat? Aber sind wir denn besser? Ist es die Unmöglichkeit Mitleid zu empfinden?

Und dann wurde sie zurückgeworfen in Ihre Zeit als Entwicklungshelferin, als sie in den 90er Jahren in Zentralafrika war, als dort die Genozide waren, von denen das adoptierte Mädchen zu Beginn sprach. „Einmal wirkte mir einer der Soldaten sogar zu, ganz kurz, so (erhebt die Hand), vielleicht sollten es ja die anderen nicht sehen, wie er der Frau zuwinkt, der Weißen, auf ihrem Feldherrenhügel (macht Geräusch eines Maschinengewehrs nach, dann wieder Handgeste und nimmt das Maschinengewehr runter). Maschinengewehre sind irgendwie altmodisch, finden sie nicht?“ sagte sie fast wie in Trance und mit Tränen in den Augen.

Im Laufe des Stücks wurde deutlich, wie sie an dieser Unmöglichkeit verzweifelte. Es war nicht mehr die Unmöglichkeit Mitleid zu empfinden, es war die Unmöglichkeit zu helfen. Die Hauptdarstellerin verfiel immer mehr in diese Dunkelheit. Es war die Unmöglichkeit Gutes zu tun.

Verstörend war zuletzt der Anblick der Schauspielerin, die zu Ende des Stückes ihrer sterbenden afrikanischen Freundin auf den fast toten Körper urinierte, sie sterben ließ und so scheinbar selbst an dieser Welt zugrunde ging.

Bei dem Völkermord in Ruanda wurden in beinahe 100 Tagen zwischen 800.000 und 1 Millionen Menschen getötet. Milo Rau, der Schweizer Regisseur des Theaterstücks, thematisierte den Genozid bereits in einem seiner früheren Bühnenspiele „Hate-Radio.“ Diese Plattform, das Radio-Télévision Libre des Mille Collines, kurz RTLM genannt, war das wohl wichtigste Instrument des Völkermords. Die Hetze gegen die Tutsibevölkerung, die daraus resultierte, entfachte schließlich den Genozid, was besonders an diesen Worten des Moderators nachzuvollziehen ist: „Alle, die ihr uns zuhört, erhebt euch, sodass wir alle für unser Ruanda kämpfen können. Wir müssen den Tutsi ein Ende bereiten, sie auslöschen, aus dem Land herausfegen.“ Der Genozid umfasste den Zeitraum des 6. April 1994 bis etwa Mitte Juli selbigen Jahres. Bei jenen Gewalttaten wurden ungefähr dreiviertel der Tutsi-Minderheit von der Hutu-Mehrheit getötet. „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, zitiert der Regisseur Milo Rau Adorno und erklärt weiter: „Verzweiflung ist zwar angebracht aber wir müssen einen Weg finden von Mitleid, von Empathie, vielleicht auch von Charity, hin zu Solidarität, zu Gerechtigkeit, zum Verständnis, dass wir Menschen insgesamt einen gemeinsamen Kampf haben, dass es nicht die Afrikaner, die Europäer gibt. Es gibt nur eine Welt.“ Und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Das Stück zeigt nicht nur die Grenzen des Mitleids an, sondern fordert auch zur Aufmerksamkeit auf: „In einem verbrecherischen kapitalistischen System, wie es im Ostkongo funktioniert, wo Tausende Leute deportiert werden von Firmen, wo es Massaker gibt, oft mit dem Wissen der UNO, kann man all die Überlebenden schon verpflegen aber natürlich ist das nicht viel mehr als eine Verschönerung der Verhältnisse, vielleicht sogar ein Schmiermittel, damit diese Form von Ausbeutung weiterlaufen kann.“

Es scheint die Forderung zu sein, Resultate aus dem Prozess des Mitleids zu ziehen, dieses zu überwinden, in Richtung einer humanen Auseinandersetzung und einem Verständnis angebrachter Hilfe.

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Bildnachweis:
Berliner Schaubühne / Autor: Daniel Seiffert

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