Nach rund 30 Minuten Busfahrt in den Nordwesten Prags stehe ich nun oben auf einem Hügel, und sehe in ein grünes, hügeliges Tal mit kleinen Wegen und hier und da Plätze, die besonders scheinen. Unten schlängelt sich ein kleiner See entlang, die Birken beginnen sich herbstlich zu färben. Es sind kleine Trauerbirken, deren Äste nach unten zeigen. Ich blicke auf Lidice, ein ehemaliges Bauerndorf, in dem die Menschen Felder bestellt und Gänse gehütet haben. Mittelpunkt des Dorfes war die große St. Marienkirche.
Als am 27.05.1942 Reinhard Heydrich, Reichsprotektoratsführer von Böhmen und Mähren, durch ein Attentat in Prag ums Leben kam, suchten die Nazis nach Vergeltung. Für das Protektorat wurden Notstandsgesetze erlassen, die Versammlungen verboten, standrechtliche Hinrichtungen erlaubten und die tschechische Bevölkerung in Angst und Terror versetzte. Die Nazis warfen dem Dorf Lidice vor, die Attentäter zu schützen und auf obersten Befehl wurde das Dorf am 9./10. Juni 1942 liquidiert. Alle Männer über 15 Jahre wurden sofort erschossen, alle Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Die Kinder wurden von ihren Müttern getrennt und nach arischen Rassemerkmalen selektiert. Die Mehrheit von ihnen wurde ins Vernichtungslager Chelmno deportiert, neun von ihnen germanisiert und arischen Pflegefamilien übergeben. Einwohner von Lidice, die am Tag der Hinrichtungen nicht im Dorf waren, wurden später ausfindig gemacht und hingerichtet.
Lidice wurde dem Erdboden gleich gemacht, von der Dorfkirche erinnert heute nur noch ein Grundriss. Ebenso eine groß angelegter Erinnerungspark mit Museum und Gedenkstätten. Kurz nach Kriegsende wurde einige hundert Meter entfernt, ein neues Dorf angelegt, in das auch einige der Frauen einzogen, die das KZ Ravensbrück überlebt haben. Neben Lidice wurde im Juni 1942 ebenfalls auch das Dorf Ležáky als Vergeltung liquidiert, die Bevölkerung hingerichtet oder in die Konzentrationslager deportiert. Insgesamt wurden rund 4000 Tschechen verhaftet, 1357 von Standgerichten hingerichtet -ihr Vergehen hieß meistens “Gutheißung des Attentats”.
Der Vorwurf, an den Attentaten beteiligt zu sein, wurde nie bestätigt.
Konrad von Neurath und später Reinhard Heydrich machten seit 1939 jedoch immer wieder klar, dass die Tschechen als Menschen 2. Klasse sich den Sudetendeutschen und dem Kriegsdienst unterzuordnen haben. Nach einem Kriegsende sollte eine breite “Umvolkung” der Tschechen stattfinden. So wurden schon in der Terrorwelle von 1939 ungefähr 400 Menschen hingerichtet, rund 5000 verhaftet. Zur Dezimierung der tschechischen Intelligenz wurden 1200 Studenten und Professoren in Konzentrationslager deportiert, neun Studentenführer hingerichtet.
Im tschechischen Kontext sind dies prägende Erinnerungen, die auch ins Bewusstsein gerufen werden müssen, wenn über Vergeltungsmaßnahmen von Tschechen nach 1945 gesprochen wird. So wichtig der Film “Töten auf Tschechisch” von David Vondraceks für die Diskussion und Geschichtsaufarbeitung in Tschechien ebenso wie für Sudetendeutsche ist, dürfen Ursache und Wirkung nicht aus dem Zusammenhang gebracht werden.
Einen interessanten Ansatz schafft die Bürgervereinigung Antikomplex, die in ihrer Reflexion auf Böhmische, Mährische und Schlesische Geschichte vorurteilsfrei Vertriebene, Alteingesessene und Neusiedler zusammenbringt und das gemeinsame kulturelle Erbe im ehemaligen Sudetenland betont.