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Wie ein blutig Eisen

"Woyzeck" im Divadlo na Vinohradech

Eine adrette Blondine mit Mobiltelefon lächelt mich von einem überdimensionalen Plakat konsumfreudig an. Neben ihr steht mit Schäfchenwölkchen hinterlegt der Schriftzug ”Hello everybody”. Etwas befremdlich wirkt die Kulisse des Divadlo na Vinohradech auf den ersten Blick. In wenigen Minuten wird hier “Woyzeck” aufgeführt. Das auf Tschechisch gespielte Stück mit deutschen Untertiteln bildet den Auftakt des 14. Prager Theaterfestivals Deutscher Sprache. Bevor die eigentliche Vorführung beginnt, erfolgt die Preisverleihung. Regisseur Daniel Špinar erhält dieses Jahr den Josef-Balvin-Preis für seine Inszenierung von Büchners Fragment. Die Spannung meinerseits steigt. Wer den Preis des Festivals erhält, muss etwas Außergewöhnliches auf die Bühne gebracht haben. Eineinhalb Stunden später bin ich davon überzeugt, denn Špinar ist mit seiner Inszenierung eine bewegende Gesellschaftskritik gelungen. Obwohl ”Woyzeck” bereits 1879 erschien, ist der Stoff so aktuell wie eh und je. Er handelt von heuchlerischer Moral und Tugend, menschlichen Trieben und Außenseitertum.

“Wenn einem die Natur kommt” - so beschreibt es Woyzeck, wenn die Triebe einmal mehr sein Handeln bestimmen. Allzu menschlich sind sie, doch die Gesellschaft, in der Woyzeck lebt, versucht dies zu übertünchen. Allen voran der Hauptmann, für den Woyzeck arbeitet. Er predigt geradezu Moral und Gutmenschentum. Dabei realisiert er nicht, dass er selbst weit von einem tugendhaften Leben entfernt ist. Woyzeck teilt dem Hauptmann seine Gedanken mit, die er sich über die Welt macht - doch vergebens. Von den Soldaten des Dorfes wird Woyzeck ausgeschlossen und gedemütigt. Marie, Woyzecks Geliebte, mit der zusammen er ein Kind hat, nutzt ihn letztlich ebenso aus. Alles was Woyzeck möchte ist ihre Zuneigung. Marie jedoch ist geblendet vom vermeintlichen Ruhm und der Männlichkeit des Tambourmajors, dem sie sich hingibt. So ist Woyzeck gefangen in einem einfachen Leben am Rande des Wahnsinns, in dem er nur mit harter Arbeit und Missachtung bestraft wird. Gewöhnungsbedürftig doch sehr gekonnt und bewegend werden der Wahnsinn und die zunehmende Verzweiflung Woyzecks dargestellt. Ein zweites Ich steht mal masturbierend auf der Bühne, ein anderes Mal rennt es wie von der Tarantel gestochen laut schreiend über die Bühne. Wenn einem die Natur kommt.

Als Woyzeck sich in seiner Liebe betrogen fühlt, ersticht er unter einem Mond, so rot wie ein blutig Eisen und den Augen aller Marie. Rotes Blot fließt über ihr weißes in Wasser getränktes Hemdchen. Woyzeck begeht Selbstmord. Sein ergreifendes Ende findet das Stück in einer Videoprojektion. Die komplette Bühne wird zur Leinwand. In der kurzen Sequenz sind Woyzeck und Marie zu sehen, die Freude strahlend zusammen aus dem Theater rennen, in dem ich gerade sitze. Sie überqueren die Straße vor dem Divadlo na Vinohradech und verschwinden hinter dem Náměstí Míru am Horizont. Auf Marie und Woyzeck wartet in dieser Inszenierung an einem anderen Ort eine gemeinsame Zukunft - weit entfernt von der Gesellschaft, in der sie einst lebten. Gerührt vom Leiden Woyzecks und der heuchlerischen Gesellschaft, in der er lebt, sitze ich im Publikum. Und während ich die Autos auf der Bühne vorbei rauschen sehe, denen auch ich in wenigen Minuten begegnen werde, denke ich ”Hello everybody”.

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