Prag - Venedig entstand im Feuer. Zumindest das Prager. 1541 tobte ein Brand am Fuß des Hradschin und verwüstete Adelspaläste, Klöster und Bürgerhäuser. Aus den Trümmern, aufgeschüttet auf der Insel Kampa, wuchs zwischen Moldau (Vltava) und Teufelsbach (Čertovka) ein neues Viertel.
Wenn es heute "Prager Venedig" (Pražské Benátky) genannt wird, liegt das an der Phantasie der Leute im Fremdenverkehrsamt.
Eingebürgert hat sich der Name nicht. Man wohnt "auf der Kampa" und kennt das Prager Venedig höchstens von der Werbung fürs Sightseeing per Boot.
Nur eine Stunde dauert die gleichnamige Tour zwischen Legionen- und Karlsbrücke. Der Teufelsbach, quasi Prags Canal Grande, ist nicht schiffbar - höchstens schlauchboottauglich. Ergiebiger ist die Erkundung zu Fuß. Auch nach 20 Jahren Prag entdecke ich im idyllischsten Viertel der Stadt immer wieder Neues.
Kitsch und Kunst
An einem Mühlrad über dem Teufelsbach thront seit 2010 eine Wassermannstatue, komplett mit Zipfelmütze, Froschaugen und Tabakspfeife, das Werk des Bildhauers Josef Nálepa. Kunst oder Kitsch? Ich bin mir nicht sicher.
Klarer liegt die Sache im Fall der "Liebesschlösser" einige Meter oberhalb. Als stünden sie auf der Milvischen Brücke in Rom, zwacken romantisch gestimmte Touristenpärchen Vorhängeschlösser ans Geländer des Stegs über den Teufelsbach. Ist der Liebesschwur besiegelt, landet der Schlüssel im Wasser darunter.
Auf die gefühlige Mode hat sich der Einzelhandel im Viertel eingestellt. Wo es Postkarten gibt, bekommt man auch Schlösser. Mittlerweile hängen fast alle Brückengeländer in der Gegend voll mit Schlosstrauben.
David Černýs Bartheke und Pissmännchen
Das Viertel unter der Karlsbrücke zieht Künstler an wie kein anderer Teil der Stadt. Heute prägt auch moderne Kunst die Insel. Das Kampa-Museum in einer Mühle an der Moldau beherbergt die Sammlung der noch immer agilen Mäzenin Meda Mládková (Jahrgang 1919), die vor allem Werke ostmitteleuropäischer Künstler umfasst.
Vor dem Museum stehen die bronzenen "Babys" des Bildhauers David Černý (Jahrgang 1967). Der seit dem Entropa-Skandal während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft 2009 als "böser Bube der tschechischen Kunstszene" geltende Provokateur ist mit dem Viertel eng verbunden.
In seiner Stammkneipe, einer alten Mühle am Teufelsbach, hat er die Theke gestaltet, ein surrealistisches Panoptikum in Kunstharz. Einen knappen Kilometer flussabwärts zieht ein weiteres Werk Černýs die Besucher an: Die "Pissende Statue" vor dem als Touristenfalle geltenden Kafka-Museum zeigt zwei lebensgroße männliche Gestalten, Hand am Gemächt, die beim Urinieren ein Bassin in den Umrissen der Tschechischen Republik füllen. Der Harndrang lässt sich Steuern, per SMS.
Das Fenster unter der Brücke
Wenn man auf der Tour Durst bekommt, lohnt sich ein Stopp beim Bistro Bruncvík (Na Kampě 7, Praha 1), im Volksmund "Okýnko" (Fensterchen) genannt. Die Minikneipe soll nach der Wende das erste privat geführte Lokal auf der Kleinseite gewesen sein. Manche Stammgäste sehen so aus, als hätten sie in den letzten 23 Jahren keinen Tag ohne Abstecher am Fensterchen vergehen lassen. (gp/nk)