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Der Autor

Peter Pragal wurde 1939 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geboren. Nach Flucht und Vertreibung kam er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er das Abitur machte und nach dem Studium der Publizistik, Neueren Geschichte und Politik auch die Journalistenschule in München besuchte.

Als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung war er für die Berichterstattung aus der DDR, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn zuständig. Pragal war außerdem leitender Redakteur bei der Berliner Zeitung. Seit 2004 arbeitet er als freier Journalist und Publizist in Berlin.

Basierend auf persönlichen und professionellen Erfahrungen hat er mehrere Bücher herausgegeben, unter anderem "Der geduldete Klassenfeind - Als Westkorrespondent in der DDR" und "Wir sehen uns wieder mein Schlesierland - Auf der Suche nach Heimat".

Im Internet: www.prager-literaturhaus.comwww.prager-literaturhaus.com

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Ein Bahnhof als Denkmal

Pragals Prager Tagebuch (14)

Als ich an einem Wochenende aus der U-Bahn-Station die Rolltreppe zur Halle des Hauptbahnhofs hinauf fuhr, hörte ich Jazz-Musik. Oben angekommen, sah ich die Band. Um die jungen Musiker hatte sich eine breite Traube von Zuhörern gebildet. Teenager waren ebenso vertreten wie Angehörige der Generation Grauhaar. Die Leute gingen begeistert mit. Manche wippten mit den Füßen, einige begannen zu tanzen. Die Band nannte sich „Cactus Madness.“

Bahnhöfe sind öffentliche Orte besonderer Art. Sie bieten eine eigene Lebenswelt. Hastende Reisende kontrastieren mit Menschen, die warten können oder warten müssen. Szenen von Geschäftigkeit wechseln mit Bildern der Ruhe, etwa wenn jemand, ein Buch lesend, auf einer Bank sitzt und den Trubel um sich herum kaum wahrnimmt. Bahnhöfe sind - ebenso wie Flughäfen - Schauplätze von Abschied und Wiedersehen, von Wehmut und Freude, von kleinen und großen Auftritten. Hauptstädtische Bahnhöfe stehen für Mobilität und Urbanität. Aber zugleich haftet ihnen trotz ihrer technisch hoch gerüsteten Ausstattung etwas Altmodisches an.

Der Prager Hauptbahnhof bietet dafür ein treffendes Beispiel. Wenn man, von der Parkanlage kommend, die untere Halle betritt, ist man zunächst von Boutiquen umgeben. Es gibt Läden für Kleidung, Schuhe, Brillen, Taschen und Koffer sowie Kinderspielzeug; Geschäfte, wo man Weine, Süsswaren und Feinkost erwerben kann. Ferner eine Parfümerie, eine Drogerie und eine Apotheke. In der Mitte eine große Buchhandlung. In der etwas höher gelegenen Halle, von wo aus es zu den Bahnsteigen geht, setzt sich die Serie der kleinen Shops fort. Hinzu kommen Schnellrestaurants und Imbissstände. Man könnte meinen, man sei in einem großen Kaufhaus mit angeschlossenen Gleisen und Zügen.

Der interessantere Ort des Gebäudekomplexes bleibt den meisten Besuchern verborgen. Zu ihm führt eine Rolltreppe mit dem Hinweis auf den historischen Teil. Ich fuhr hinauf und war plötzlich allein. Ich stand in einer prächtigen Jugendstil-Halle, schaute zu dem bunten großflächigen Glasfenster, zur Kuppel mit den Wappen tschechischer Städte und zu einer Galerie von Frauenfiguren. In der Mitte eine lateinische Inschrift: „Praga mater urbanum“ (Prag die Mutter der Städte). Ich erinnerte mich an frühere Besuche, aber jetzt war alles anders. Die einstigen Fahrkartenschalter mit den kleinteiligen, von dunkelbraunen Holzrahmen eingefassten Fenstern waren verwaist. Hier gab es mal ein Café und daneben ein Bahnhofsrestaurant. Jetzt herrscht Leere. Auf der linken Flurseite wartet der Angestellte einer einsamen Wechselstube auf Kunden. Der hintere Teil des breiten Ganges ist mit einer provisorischen Wand versperrt. Auf der anderen Seite hat man eine Lounge für 1. Klasse-Fahrgäste eingerichtet. Aber wer soll die finden?

Von hier aus kommt man direkt auf den ersten von insgesamt sieben Bahnsteigen. In die hellblaue Wand sind zwei Metalltafeln eingelassen. Die eine, verziert mit einem bewaffneten Eisenbahner, erinnert an die 17 Männer, die hier beim Aufstand zwischen dem 5. und dem 9. Mai 1945 bei Kämpfen mit deutschen Soldaten umgekommen sind. Die andere Tafel ist 23 Bahnbediensteten gewidmet, die während der Okkupation ihr Leben ließen. Neueren Datums ist ein auf dem Bahnsteig stehendes Mahnmal. Es zeigt eine männliche Figur, die einen kleinen Jungen auf dem Arm trägt und ein Mädchen an der Hand hält. Auf einer Bodenplatte ist zu lesen: „Zur Erinnerung an die 15.131 tschechoslowakischen Kinder, die in Konzentrationslagern getötet wurden.“

Errichtet wurde der Prager Hauptbahnhof im Jahr 1871. Damals hieß er Kaiser-Franz-Joseph-Bahnhof. Die Strecke führte von Wien über Budweis nach Norden. Umgebaut zum Jugendstil-Gebäude wurde er zwischen 1901 und 1909. Den Entwurf lieferte der Architekt Josef Fanta. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt der Bahnhof den Namen des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die böhmischen Länder und die Slowakei eine eigenständige Republik werden konnten. Sein Denkmal steht noch heute in der dem Bahnhof vorgelagerten Parkanlage.

Unter der deutschen Besatzung von 1939 bis 1945 erhielt der Hauptbahnhof seinen früheren Namen zurück. Auch während der kommunistischen Ära blieb es dabei. In den 70-er Jahren wurde die Bahnstation um eine neue, zweiteilige, zum Teil in den Hang eingebaute Eingangshalle erweitert. Vom vorderen Teil, in dem sich auch die Fahrkartenschalter befinden, führen Treppen zur unterirdischen Metro. Im hinteren, etwas höher gelegenen Teil ist der Wartebereich. Auf einer großen elektronischen Tafel wird die Abfahrt der Züge angezeigt, auf einer kleineren ihre Ankunft.

In den ersten Tagen meines Aufenthaltes wartete ich hier mit meiner Frau auf Freunde aus Berlin, die zwei Tage später mit ihr im Auto nach Deutschland zurück fahren wollten. Der Euro-City hatte keine Verspätung, aber auf der Tafel fehlte ein Hinweis auf den Bahnsteig. Der Platz vor der Anzeigetafel war mit Menschen überfüllt. Viele von ihnen wollten mit dem EC nach Bratislava fahren. Ungeduldig starrten sie auf die Anzeige. Erst wenige Minuten vor der Ankunft des Zuges kam der Hinweis: Bahnsteig 2. Die Fahrgäste stürmten mit ihren Taschen und Rollkoffern los.

Das sei keine Panne, sondern ein Zufall, meinte ein tschechischer Bekannter. Aber dem war nicht so. Am vergangenen Wochenende stand ich wieder an derselben Stelle. Ich wollte einen Freund verabschieden, der mich hier besucht hatte. Der EC 170 „Hungaria“ sollte um 16.28 Uhr ankommen und nach zwei Minuten Aufenthalt weiter nach Berlin fahren. Wieder dasselbe Schauspiel. Kein Hinweis auf den Bahnsteig. Einige deutsche Reisende mit kleinen Kindern werden nervös. Bei fast allen anderen Zügen ist auf der Tafel die Bahnsteignummer angegeben. Nur nicht beim EC. „Die wollen uns wohl verarschen“, höre eine deutsche Stimme.

Dann endlich, kurz vor Ankunft des Zuges, der erlösende Hinweis: Bahnsteig 3. Ein Menschenpulk hastet los. Die Passagiere keuchen die Treffen hinauf. Chaos beim Einsteigen. Die angegebene Reihenfolge der Waggons stimmt nicht. „Ich verstehe nur Bahnhof“, sagt man auf Deutsch, wenn man ganz allgemein etwas nicht begreifen kann. Die tiefere Bedeutung dieser Redensart habe ich jetzt verstanden.

geschrieben am 23. April 2015

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