Der Gedanke kam mir, als ich im Sportteil der Prager Zeitung das Programm für den 22. Spieltag der ersten tschechischen Fußballliga sah. Angekündigt wurde ein Lokalderby: SK Slavia Prag gegen Bohemians Prag 1905. Ich könnte mir mal wieder ein Match ansehen, dachte ich. In Berlin gehe ich selten ins Stadion, aber hier in Prag hatte die Idee einen besonderen Reiz. Ich kaufte ein Ticket, das kostete umgerechnet knapp zehn Euro. Für einen Sitzplatz in der dritten Rangreihe erschien mir das preiswert.
Am Abend des Ostersamstags machte ich mich auf den Weg. Der Anstoß war für 20.15 Uhr vorgesehen. Ich war schon früh vor Ort und erlebte einen spektakulären Aufzug. Angeführt von Polizeiautos mit Blaulicht, flankiert von behelmten und bewaffneten Sicherheitskräften, zogen Fans von Bohemians in einem geschlossenen Block, Schlachtrufe skandierend, Richtung Stadion. Der Autoverkehr stand zeitweise still. Vor der Arena hatte sich eine Reiterstaffel der Polizei postiert. Die Anhänger, kostümiert mit Jacken, Schals und Mützen in den grün-weißen Vereinsfarben, wurden in einen Tribünen-Sektor geleitet, den hohe Metallzäune mit aufgesetzten Spitzen von den übrigen Platzreihen trennte.
Auf der gegenüber liegenden Seite hatten die Unterstützer der heimischen Mannschaft Platz genommen. Dort dominierten die Farben Rot und Weiß. Was folgte, gehört zum Ritual in allen Fußballstadien der Welt. Wechselseitige, von Trommeln unterstützte Schmähgesänge, gellende Pfeifkonzerte, sobald ein Spieler von einem gegnerischen gerempelt oder zu Fall gebracht wurde, einstudierte, im Takt vorgetragene Gesten, die eine eindeutige Botschaft signalisierten: Nieder mit den Konkurrenten. Die Grün-Weißen bildeten den kleineren Fanblock, waren aber, angefeuert von ihrem mit einem Megafon ausgestatteten Regisseur, akustisch überlegen.
Fußball ist nicht nur eine Sportart. Über ihn identifizieren sich Menschen, von örtlichen Gruppen und Vereinen bis zu Nationen. Die Bohemians, zumindest ihre als Ultras bezeichneten Unterstützer, gelten als anti-rassistisch und gesellschaftspolitisch eher links. Sie halten, so habe ich gelesen, enge Kontakte zum Hamburger Klub FC St. Pauli und zu Celtic Glasgow. Slavia dagegen, ursprünglich von Studenten ins Leben gerufen, wird als eher bürgerlich eingestuft. Beide Vereine haben eine lange, von siegreichen wie krisenhaften Phasen gekennzeichnete Tradition. Die Fußballabteilung von Slavia wurde bereits 1895 gegründet, die Bohemians, die aus dem einstigen Prager Vorortklub Vrsovice hervorgingen, nennen als Gründungsjahr 1905.
Das originellere Trikot haben zweifellos die Grün-Weißen. Ihr Vereinswappen, das sie am Hemd tragen, ziert ein Känguru. Das geht auf eine Turnier-Reise zurück, die die Bohemians 1927 nach Australien unternahmen. Dort bekamen sie ein Paar der heimischen Beuteltiere geschenkt, die sie mit in die Heimat nahmen und dem Prager Zoo übereigneten. So wurde das Känguru zum Vereinsemblem und die Elf bekam einen neuen Spitznamen: Klokani, zu deutsch Kängurus.
In ihren Anfängen hatten es die Prager Fußballvereine schwer. Die in Großbritannien schon damals äußerst populäre Balltreterei galt an der Moldau als vulgäre Sportart, manche Leute sprachen vom „Ballfieber“ und von der „englischen Krankheit.“ Erst kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges gestattete das Unterrichtsministerium in Wien, dass Schüler in Fußballvereine eintreten durften und das Mannschaftsspiel an böhmischen Schulen in den Sportunterricht aufgenommen werden konnte. „Wer uns vor 15 Jahren gesagt hätte, dass einmal eine solche Erlaubnis kommen werde, dem hätten wir nicht zu glauben vermocht“, hat Egon Erwin Kisch damals geschrieben.
Ausführlich schilderte er, was kickende Jungen vorher zu gewärtigen hatten. „Auf das Fußballspielen standen damals alle Todesstrafen, die die Schule zu fällen hat: strenges Prüfen, Karzer, Repetieren.“ Und weiter: „Wehe dem, dessen Zugehörigkeit zu einem Klub man in der Schule in Erfahrung brachte. Und doch: Wir spielten fast alle. Was bedeuteten die ärgsten Strafen gegenüber dem Vergnügen, zweimal je fünfunddreißig Minuten der Gelegenheit nachjagen zu dürfen, ein Goal zu schießen.“
Kisch selbst war aktives Mitglied, in einem deutschen Fußballklub. Die sportliche Szene war stark national gefärbt. In der Zeit der tschechoslowakischen Republik waren tschechische und deutsche Klubs in unterschiedlichen Verbänden organisiert. Die Vereine wiederum unterschieden sich in der sozialen Struktur und im Selbstverständnis voreinander. Slavia, dem auch Edvard Benes angehörte, haftete der Ruf an, ein Klub der Intellektuellen zu sein. Zu seinen Mitgliedern zählten auch jüdische Bürger. Sparta hingegen war der Fußballverein der Arbeiter. Beide Teams waren heftigste Konkurrenten und kämpften erbittert um die Vorrangstellung.
In der zugigen Eden-Arena, in der bei weitem nicht alle Plätze besetzt waren, wurde es am Ostersamstag bitter kalt. Ich schaute durch das offene Dach in den nachtblauen Himmel, fror erbärmlich und das kalte Bier, das ich in der Pause aus einem Plastikbecher getrunken hatte, konnte mich auch nicht wärmen. Ein Glühwein wäre mir lieber gewesen. Aber den gab es nicht. Das Spiel wogte hin und her. Es war nicht hochklassig, aber spannend. Das Ergebnis erschien mir gerecht. Die Mannschaften trennten sich mit einem Unentschieden 1:1.
geschrieben am 8. April 2015