Rechts und links der Prager Vinohradska (deutsch: Weinbergstraße) liegen mehrere Friedhöfe. Der Olsaner, der flächenmäßig größte, wurde Ende des 17. Jahrhunderts als Begräbnisstätte für Pestopfer vor den Toren der Stadt angelegt. An ihn grenzt der neue jüdische Friedhof, auf dem unter anderen Franz Kafka begraben liegt. Auf einem anderen, kleineren Areal sind sowjetische Soldaten bestattet, die 1945 bei der Befreiung der Tschechoslowakei gefallen sind. Stadtauswärts erstreckt sich der Weinberger Friedhof mit dem größten und bekanntesten Krematorium der Stadt.
Und dann, auf der gegenüber liegenden Straßenseite, verborgen hinter einer hell verputzten Mauer, gibt es noch einen Friedhof, einen mit einer besonderen Geschichte. Es ist der frühere Gottesacker der deutschen evangelischen Gemeinde Prag. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden hier deutsche Bewohner der Stadt zur letzten Ruhe gebettet. Dann verwilderte das Gelände. Die Gräber wurden zwar nicht eingeebnet, aber die Stadt überließ sie der Natur und dem langsamen Zerfall. Bewohner der benachbarten Mietshäuser warfen ihren Müll über die Mauer. Im Haus des früheren Verwalters richteten sich zeitweise Obdachlose ein. Manche von ihnen bezogen in einer Gruft Quartier.
Seit einiger Zeit wird der Friedhof dem Vergessen entrissen. 2002 hatte das Kulturministerium ihn zum Kulturdenkmal erklärt. Mit der Begründung, dass diese Begräbnisstätte in beispielhafter Weise von der Bestattungspraxis des 19. und 20. Jahrhunderts zeuge. Aber erst in jüngster Zeit sind Arbeiter im Auftrag der Kommunalverwaltung damit beschäftigt, die Anlage zu restaurieren. Gehwege wurden gepflastert, gut erhaltene Grabsteine umgesetzt und entlang der ausgebesserten Mauer aufgereiht. „Wir erhalten alles, was noch einigermaßen Wert hat“, wurde einer der Arbeiter in einem Zeitungsbericht zitiert.
Bis zur vollständigen Wiederherstellung dürfte noch viel Zeit vergehen. 598 Gräber und 54 Gruften sind laut Friedhofsverzeichnis auf dem Gelände angelegt worden. Etliche Steine liegen am Boden, andere sind verwittert. Die meisten Gräber sind dicht mit Efeu überwachsen. Dessen Zweige ranken sich auch bis hoch hinauf um die hohen Stämme der Bäume. Zwischen den Grabstellen wuchert Gras und Unkraut. Im hinteren Teil des Areals haben Arbeiter den Boden gerodet und die Erde zu großen Haufen getürmt. Auf einem Kreuz in der Mitte des Friedhofs verkündet eine Inschrift die christliche Botschaft: „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“
Die noch erkennbaren Namen auf den Steinen erzählen Geschichte. Es sind deutsche Familiennamen, Fischer, Müller, Schoeller, Schulze, Metzger, Eichmann, Ippen, Rex, Rademacher und viele andere mehr. Von den etwa 100.000 Einwohnern der Stadt Prag waren Mitte des 19. Jahrhunderts etwa die Hälfte Deutsche. Bis 1910 war die Anzahl der in Prag lebenden Deutschen auf sieben Prozent der Gesamteinwohnerzahl gesunken.
Das älteste namentlich bekannte Grab stammt aus dem Jahr 1828. Manche Zusätze auf den Tafeln verraten Beruf und Status der Verstorbenen: Blattgold-Fabrikant, Kommerzienrat, Professor, Oberstleutnant-Witwe. Die meisten Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben, sind vor dem Ersten Weltkrieg gestorben. Manche auch erst im Frühjahr 1945. Einige wenige Sterbedaten reichen bis in die 50-er Jahre. Es sind Tote aus gemischten deutsch-tschechischen Familien. Erkennbar an der slawischen weiblichen Namensendung „ova“.
Ursprünglich hatte es für diesen Friedhof andere Pläne gegeben. Hier sollten gefallene Wehrmachtssoldaten und deutsche Opfer von Racheakten und Nachkriegsvertreibungen ihre letzte Ruhestätte finden. Darauf hatten sich der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Stadt Prag grundsätzlich geeinigt. Die tschechische Seite schraubte jedoch in den Verhandlungen ihre finanziellen Forderungen für die Umbettung und die Anlage so hoch, dass der Volksbund passen musste.
Zudem gab es unter Prager Bürgern Bedenken und Proteste. Nachdem die Absprache zwischen Stadt und Volksbund bekannt geworden war, erhoben ehemalige tschechische Widerstandskämpfer Einspruch. Auch Überlebende des Holocausts, frühere KZ-Häftlinge und Angehörige von Nazi-Opfern kritisierten das Vorhaben. Unter anderem deshalb, weil hier auch tschechische Kinder beerdigt worden seien, die während der deutschen Besetzung zur „Germanisierung“ in deutsche Kinderheime gebracht worden waren. Statt einen Sammelfriedhof anzulegen, sollten die Gräber der Deutschen dort bleiben wo sie jetzt seien, sagten die Gegner des Projektes.
Auch die Lage des deutschen Friedhofs im Ortsteil Strasnice erschien für das Vorhaben problematisch. Denn auf der anderen Straßenseite befindet sich eine kleine Gedenkstätte für Opfer der NS-Okkupation. Dort soll die Asche von hingerichteten Tschechen heimlich verstreut worden sein. Unter ihnen Männer aus dem Dorf Lidice, die als Vergeltung für das tödliche Attentat auf den Reichsprotektor Reinhard Heydrich in einem Prager Gefängnis erschossen worden waren.
Vor der hinteren Mauer steht die Friedhofs-Kapelle. „Christus ist unser Leben“, steht über dem Eingang. 1956 wurde sie der Hussitischen Kirche übergeben, die 1920 aus einem Reformflügel der katholischen Kirche als eigenständige Religionsgemeinschaft hervorgegangen ist. Die Kapelle ist zugleich eine Urnenhalle. Weil die Kirche nach der Abspaltung vom Katholizismus keine Möglichkeit hatte, ihre Toten auf den damals katholischen Friedhöfen zu bestatten, führte sie die Feuerbestattung ein.
Bevor die Restaurierungsarbeiten begannen, war der Friedhof abgesperrt. Den Schlüssel konnten sich Besucher beim Pförtner des Krematoriums holen. Den schriftlichen Hinweis darauf gab es nur in Tschechisch. „Hier kommt eh kein Angehöriger mehr hin“, hat einer der Arbeiter einem Journalisten-Kollegen gesagt. Da dürfte er sich irren. Auf einem der Gräber lag ein kleines, wenn auch leicht verdorrtes Blumengebinde.