Samstag, 15. November 2014
Liebster,
in der wunderbaren Jugendstil-Passage des Lucerna-Kinos unweit des Wenzelsplatzes – seit dem Jahr 1909 das älteste durchgehend geöffnete Kino Europas, hier trafen sich schon Kafka und Max Brod, um gemeinsam Filme anzuschauen – sind Schautafeln zur samtenen Revolution ausgestellt, die sich übermorgen zum 25. Mal jährt. Es gibt auch einen Buchstand, voll mit Büchern über Vaclav Havel. Die schwarz-weißen Schautafeln zeigen grandiose Momentaufnahmen von 1989 und den nachfolgenden Jahren. Eine beeindruckende Performance des Bread and Puppet theatres, eine Veranstaltung unter den Fundamenten des gestürzten Stalindenkmals oder das Bild eines Deutsch sprechenden Eremiten, der sich 1995 in einer der Höhlen am Petrin einquartierte, weil er sich mit dem Präsidenten Havel treffen wollte, um mit ihm über das Regieren zu plaudern. Es kam nicht dazu – irgendwann verschwand er spurlos. Sicherlich gibt es hunderte, tausende von Geschichten, die im Zusammenhang mit der samtenen Revolution erzählt werden. Vaclav Havel, der Dissident, der zum Präsidenten wurde, wird bis heute zu Recht verehrt. Und Vaclav heißt ja Wenzel. Somit hat wieder ein Wenzel die Prager und mit ihnen alle Tschechen von der Dunkelheit ins Licht geführt. In der kommenden Woche zeigt das Lucerna exklusiv einen Dokumentarfilm über ihn.
Vor dem Kinoeingang zum Lucerna hängt die Statue des Heiligen Wenzel von der Decke herab, der rittlings auf einem kopfüber hängenden Pferd sitzt – der Bildhauer David Cerny hat an markanten Punkten in der Stadt seine provozierenden Kunstwerke hinterlassen – hier trifft man sich unterm umgedrehten Wenzel-Denkmal, sozusagen „unterm Pferd“.
Ein Stück weiter in der Passage gelangt man zu dem kleinen Buchcafé „Gregor Samsa“ – ein wunderbares Ambiente für eine Rast zwischendurch und praktisch touristenfrei. Das Café befindet sich im Besitz der Havel-Familie.
Durch die Seitenstraßen in der Altstadt mache ich mich auf den Weg zu Havels ehemaligem Theaterschaffensort, dem „Theater am Geländer“, nahe dem Moldauufer. Auch hier hat David Cerny gewirkt: Blickt man an der Fassade nach oben, traut man seinen Augen nicht, denn an der Regenrinne schlägt ein überdimensionales Herz. Oder ist es eher eine Niere, in der das Blut, markiert durch ein blinkendes rotes Lämpchen, gespenstisch pulsiert?
Ich betrete das Foyer des Theaters, in dem reges Treiben herrscht. Leider verstehe ich vom Novemberspielplan praktisch kein Wort. Die tschechische Sprache – identitätsstiftend für zehn Millionen Tschechen – ist mir als Deutschmuttersprachlerin sehr fremd. Es sind nicht nur die vielen Konsonanten, die vielen Deklinationen, die vielen Akzentzeichen, die kreuz und quer die Zeilen bevölkern – ich kann mir gar nichts erschließen, keine Rückschlüsse und Querverbindungen ziehen. Lediglich die Namen einiger Theaterautoren kann ich mir zusammenreimen. Anton Tschechow. Ja, aber an dem Abend kann ich nicht. Da bin ich zur Zehnjahrfeier des Prager Literaturhauses in der Deutschen Botschaft.
In dem Stadtviertel zwischen dem Theater am Geländer und der Bethlehemkapelle, wo der Religionsreformer Jan Hus lange vor Martin Luther seine Kritik an der katholischen Kirche predigte, was er mit dem Leben bezahlte, wird seit Tagen ein Film gedreht. Die Cateringteams stehen mit ihren Wagen in den engen Straßen, ganze Straßenzüge sind verkabelt und gerade werden riesige Scheinwerfer auf eine mit weißen Tüchern abgedeckte Hauswand ausgerichtet, die Straße ist in ein grellkaltes Eislicht getaucht.
Prag ist selbstverständlich DIE Kulisse für Spielfilme aus allen Zeiten Europas. Man findet die passende Architektur im Original vom Mittelalter bis ins zwanzigste Jahrhundert und dazu heute hoch moderne Filmstudios, die auch Hollywoodschauspieler und Regisseure anlocken. Dieses hoch moderne Equipment hatte Milos Forman noch nicht zur Verfügung, als er hier zu Kommunismus-Zeiten seinen Oscar-prämierten Mozartfilm „Amadeus“ drehte. Forman war übrigens, wie ich las, ein Schulkamerad von Vaclav Havel.
Seitdem die beiden die Schulbank drückten, hat die Stadt sich verändert und rasend ist ihre Entwicklung in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren, seit jenem Herbst 1989, in dem das Volk das kommunistische Regime abgeschüttelt hat. Die Freiheit ist keine Kulisse.
An dem eisernen Geländer, das den Kreuzherrenplatz gegen die Moldau abgrenzt, wo die Massen auf die Karlsbrücke hinaufströmen, bringt gerade ein junges Pärchen eines der vielen Schlösser an, mit dem sie ihre Liebe verankern wollen. Sie drücken das Schloss zu, jeder nimmt einen der beiden Schlüssel und beide werfen sie gleichzeitig in hohem Bogen ins Wasser hinunter. Am Grunde der Moldau wandern die Schlüssel… Dann bitten sie eine Vorbeigehende, sie zu fotografieren. „With the castle please“, sagen sie und meinen den Hradschin. Ein Schloss ist ein Schloss ist ein Schloss…
Ob sie wohl eines Tages wiederkommen werden, um nach ihrem Schloss zu sehen? In einigen Jahren wird das eiserne Geländer über und über voll davon sein. Vielleicht werden sie ihr Schloss dann nicht mehr finden. Möglicherweise vergessen sie es auch einfach, so wie wir immer alles vergessen, selbst unser eigenes Leben.
Das andere Ufer beherrscht die angestrahlte Burg, „the castle“, und der imposante Dom.
„Lange stand K. auf der Brücke und blickte in die scheinbare Leere empor.“ Ja, dieses kleine Dorf, das ich mir beim Lesen seines Romans „Das Schloss“ immer vorgestellt hatte, mit der kleinen Dorfbrücke dazu – dieser Blick wurde nun für immer zurechtgerückt.
In Liebe,
Deine