Freitag, 28. November 2014
Liebster,
heute, als die Nachmittagsdämmerung langsam über die Stadt hereinbrach, hat mich der Geist von Prag auf meinem Abschiedsspaziergang begleitet. Lenka Reinerovà beschreibt in ihrem Buch „Närrisches Prag“ den Geist als ein hauchdünnes und dennoch unübersehbares Wesen, das beispielsweise gleichzeitig an drei Tischen im Café sitzt, ihr manchmal einen Tipp oder ein Zeichen gibt, öfters auch etwas auf seine wesenhafte Art kommentiert, ein Luftikus, ein Scharlatan, ein Narr, ein Weiser, ein Kobold.
Eigentlich blitzte der Geist schon gestern einmal auf, als ich das Antonin Dvorak-Museum aufsuchte, das in einer wunderschönen Barockvilla in einer Seitenstraße unweit des Prager Literaturhauses untergebracht ist. Dvorak lebte hier nie, sondern in wechselnden Wohnungen in der Nähe. Obwohl diese feine Villa mit ihrem selbst zu dieser Jahreszeit noch anmutigem Garten voller Statuen dem Komponisten sicherlich gefallen hätte.
Dvoraks Witwe vermachte dem Museum nach seinem Tod seinen Bösendorfer Flügel und seinen Schreibtisch. Dieses Mobiliar bildete den Grundstock für die Ausstellung, die recht hübsch, doch irgendwie auch kurios ist. Vor allem erfährt man, dass Dvorak Eisenbahnen und Dampfloks liebte. Und dass er später, in Amerika, weil die Central Station in New York nur Reisenden vorbehalten war und er deshalb nicht mehr genügend Züge sehen konnte, außerdem begann, eine Leidenschaft für Schiffe zu entwickeln. Er soll immer zum New Yorker Hafen spaziert sein, oder zum Battery-Park an der Südspitze Manhattans, um die ankommenden und abfahrenden Ozeandampfer zu beobachten. Vielleicht gibt mir das eine Idee für eine kuriose Geschichte.
Jedenfalls stand der Geist von Prag neben mir in den Räumlichkeiten der Villa herum, turnte ein wenig auf Dvoraks Flügel, probierte seinen durchgesessenen Schreibtischstuhl aus, indem er vor und zurückkippelte wie ein Erstklässler, und schien eine diebische Freude daran zu haben, das Dvorak niemals hier gelebt, ja, dieses Haus zu seinen Lebzeiten nicht einmal betreten hatte, doch dass es einem heute so vorkommt, als sei er genau hier zu Hause gewesen. Im ersten Stock vollführte der Geist dann weitere Pirouetten. Die ältere Dame von der Aufsicht empfing mich händeringend und sichtlich betrübt mit vielfachen Entschuldigungen, denn gerade sei der Klavierstimmer eingetroffen, „sorry, we have a concert tonight. He will need about half an hour“.
Ich versicherte, dass mir das nichts ausmache, doch sie glaubte mir nicht und war irgendwie untröstlich. Ich könne jetzt wegen des Klavierstimmers die Musik nicht hören. Sie führte mich daher durch den Salon, in dem bereits Stuhlreihen für den Abend aufgestellt worden waren und wo sich in der Tat der Klavierstimmer mit nervtötenden Geräuschen am Konzertflügel zu schaffen machte. Er betrachtete mich erstaunt. Denn abgesehen vom Geist, den er nicht sehen konnte, obwohl dieser längst auf den schwarzen Tasten herumsprang, war ich natürlich die einzige Besucherin.
In dem kleinen Nebenraum, in den mich die Aufsicht betrübt geleitete, deutete sie auf zwei Kopfhörer und eine Zahlentastatur, wo ich mir verschiedene von Dvoraks Werken auswählen und anhören könnte. Ich machte den Versuch, das Largo aus der 9. Sinfonie zu hören, doch das war wegen des Geists, der entschieden anarchisch am Flügel auf und nieder hüpfte, absolut unmöglich.
Auch in diesem Raum zeigten die Dokumente in den Vitrinen, dass Dvorak Eisenbahnen und Schiffe liebte. Ich sah mir das etwas ungläubig an, während sich die Aufsicht gemeinsam mit einer anderen Dame an der Elektrik im Raum zu schaffen machte, indem sie beide hinter der Tür am Boden knieten, was ich mir ebenfalls mit der bevorstehenden Abendveranstaltung erklärte. Mehrfach schalteten sie mir dabei versehentlich das Licht aus und sie entschuldigten sich wieder. Ich beschloss, dem Geist lange genug seinen Schabernack zugestanden zu haben und wandte mich zum Gehen. Die Aufsicht verabschiedete mich mit unglücklichem Gesicht und weiteren Entschuldigungen. „Come tomorrow“, sagte sie.
„No problem“, meinte ich über den Geist hinweg, der gerade seine Freude daran hatte, auf den besonders hohen Tönen herumzuhüpfen. „A few days ago I wanted to see the Mozart-Museum, Villa Bertramka.“ Die Aufsicht nickte wissend. „It’s closed“, sagte sie einfach. Jetzt nickte ich. „But here the house is full of live. No problem. Thank you!“
Lachend ging ich fort, der Geist tanzte hinter mir her und war sehr zufrieden mit mir.
Heute nun begleitete er mich zum Abschluss am späten Nachmittag auf der geführten Tour durch die Räume des ehemaligen Jesuitenklosters Klementinum, einem Gebäudekomplex mitten in der Altstadt, in dem jetzt die Nationalbibliothek mit Lesesälen und Büros untergebracht ist. Mozart spielte bereits auf der Orgel in der Spiegelkapelle, doch der Geist gab mir hier keine Kostprobe. Er bewahrte sich seinen Coup für den barocken Bibliothekssaal auf. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, noch eine weitere beeindruckende Bibliothek in Prag sehen zu dürfen. Doch als der Führer den Schalter anknipste und der dunkel ruhende, verschwiegene Saal langsam und vorsichtig illuminiert wurde, traute ich in der Tat meinen Augen nicht. Die Regale der Bibliothek waren leergefegt! Und dabei hatte ich doch eindeutig in der Tickethalle ein Poster gesehen, auf dem der Saal voller Bücher abgebildet war.
„Falls Sie sich wundern sollten“, erklärte der Führer auf englisch, französisch und portugiesisch – denn außer mir bestand die kleine Gruppe nur aus einem älteren portugiesischen Ehepaar und zwei Herren aus Frankreich – „warum hier so gut wie keine Bücher sind: Bis vor drei Monaten waren die Regale noch voll. Die Bücher wurden abtransportiert nach Deutschland (!), wo sie alle in mühevoller Arbeit eingescannt und archiviert werden. Danach kommen sie wieder zu uns zurück. In zehn Jahren.“
„In zehn Jahren?“ Ich musste nachfragen, ich konnte das nicht glauben. Ja, sagte er, in zehn Jahren wären die Bücher dann wieder da.
Der Geist neben mir kicherte. Er kletterte über die hölzerne Balustrade und turnte auf einem der Sternengloben herum. 20 000 Bücher wären eigentlich hier, erfuhr ich auf Nachfrage. Vielleicht tausend seien noch da. Warum die denn da geblieben wären, fragte einer der Franzosen. Sie würden noch nachgeschickt, versicherte der Führer. Der Geist hangelte sich inzwischen wie ein Affe an den leeren Regalen hinauf. Ich hatte gute Lust, ihn zurück zu pfeifen.
Eine leere Bibliothek ist eine merkwürdige Sache. Eigentümlich mulmig fühlt sich das an, gespenstisch. Vielleicht sollte ich eine Geschichte schreiben, die in diesem leeren Bibliothekssaal spielt, der sich nach seinen Büchern sehnt? Der Touristenführer lieferte dafür noch eine Anregung. Als die Jesuitenmönche ihr Kloster verlassen mussten, sollen sie angeblich Schätze irgendwo in den Wänden eingemauert haben, da sie damit rechneten, irgendwann zurückzukommen. Sie benötigten einen Helfer bei dieser Arbeit und blendeten ihn, damit er das Geheimnis des Verstecks nicht preisgeben konnte. Doch er hörte die Kirchenglocken und wusste, wo im Gebäude er sich befand. Deshalb töteten sie ihn und beerdigten ihn zusammen mit dem Schatz. Der Schatz, sofern er existiert, wurde bis heute nicht gefunden. Das Skelett ebenso wenig. Der Geist grinste. Er zupfte der Portugiesin im Haar herum.
Über den Meridiansaal im Turm des Klosters, wo Mönche und Astronomen die Sterne mit Hilfe von Fernrohren und Quadranten studierten – auch Johannes Kepler betrieb hier seine Himmelsforschungen – wurden wir viele alte Holztreppen hinauf zum Aussichtspunkt auf dem Turm geführt. Der Führer öffnete die schweren Holztüren und es bot sich uns ein atemberaubender Anblick. Einmal rundum gegangen, sieht man buchstäblich die gesamte Stadt, auf einer Seite die Türme der Altstadt mit dem Altstädter Ring, wo gerade der große Weihnachtsbaum aufgestellt wurde, auf der anderen Seite der Hradschin, das Strahov-Kloster, der Hausberg Petrin, die Kleinseite. Links am Moldauufer das beleuchtete Nationaltheater. Rechts das ebenfalls beleuchtete Rudolfinum, die Philharmonie. „Siehst du“, sagte der Geist dicht neben mir, „zu deinem Abschied lege ich dir die ganze Stadt zu Füßen.“
Dann schwang er sich auch hier über die Brüstung und flog mir voraus zu meinem Abschiedsrundgang. Der vom Aufbau des Weihnachtsmarktes eingenommene Altstädter Ring, die Lichter im Kafka-Buchladen kurz vor Ladenschluss, das untere Ende des Wenzelsplatzes ebenfalls schon weihnachtlich geschmückt. Ich grüßte mit einer leichten Handbewegung zu Vaclav Havel an der Fassade des Nationaltheaters hinauf. Dann traf ich den Geist auf ein letztes Glas im Café Slavia. Er saß an mindestens drei Tischen.
Mein Pianist, noch ganz von seiner Schiffsreise über den Atlantik beseelt, spielte „Bridge over troubled water“ und „As time goes by“. Mit glänzenden Augen prostete der Geist mir zu, der schon wieder auf dem Flügel saß.
Morgen, Liebster, komme ich nach Hause.
„I habe seen a nice part of the world here“, so wurde ein Brief von Dvorak übersetzt, den er im Herbst 1893 von New York aus in die Heimat schrieb, „but the nicest will be when I see you again in that world of ours.“
In Liebe,
Deine