Im Rahmen einer höchst feierlichen Zeremonie nahm gestern, am 6. Mai 2014, Bundespräsident Joachim Gauck im Karolinum eine Gedenkmedaille in Empfang und sprach über „Europas Vielfalt – Europas Reichtum“.
Unter dem wachsamen Blick Karls IV. und in traditionellen Roben ziehen zunächst Würdenträger der Karlsuniversität in die Große Aula des Karolinums ein. Bedeutungsschwer liegt dabei die Orgelmusik in der Luft. Ich betrachte ehrfurchtsvoll die vorübergeleitenden, unnahbar wirkenden Gesichter.
Der Bundespräsident beginnt seine Rede mit einer Reminiszenz an seinen Prag-Besuch kurz nach dem sowjetischen Einmarsch 1968. Ich fühle mich sofort an Erzählungen meiner Eltern erinnert, die mit dem damaligen „Prager Frühling“ ebenso ein bestimmtes Aufbruchsgefühl verbinden. Das weitestgehend freiheitliche Europa, wie wir es heute kennen, stellt Gauck in Kontrast zu seinem Erlebnis von 1968. Diese Entwicklung sei dem Mut und Widerstand von Menschen geschuldet.
Angefangen beim Gründer der Karlsuniversität Karl VI. hebt der Bundespräsident den europäischen Geist hervor, der insbesondere Prag auszeichnet. Die Universität könne als pars pro toto der Geschichte verstanden werden. So sei sie nicht zu allen Zeiten ein Ort gewesen, der zu selbstständigen Denken befähigte, sondern zeitweise auch ein Ort der Gleichschaltung. Während der Okkupation der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland wurde die Universität für 3 Jahre geschlossen und 1200 Stundenten und Professoren in Konzentrationslager deportiert. Darauf folgten Jahre der kommunistischen Gleichschaltung. Der Bundespräsident drückt seinen Respekt für die heute zurückgewonnene Bedeutung und Würde der Universität aus, die einer gewissen Ahnenreihe zu verdanken sei. Namen wie u. a. Jan Palach, der sich aus Protest gegen die sowjetische Invasion auf dem Wenzelplatz verbrannt hat, werden erwähnt.
Nach Gauck repräsentiert die Karlsuniversität die gesamte Stadt Prag, deren Zauber, Geheimnisse und verschiedenen Traditionen. Beispiele aus der Architektur und Kultur werden angeführt als Symbole eines offenen und vielfältigen Europas.
Der Panzer zielt, anders als es Heinrich Böll während der Niederschlagung des Prager Frühlings formulierte, nicht mehr auf Kafka. Franz Kafka könne verstanden werden als Inbegriff der deutsch-tschechischen Symbiose. Im Gegensatz dazu stünden Verbrechen der Nationalsozialisten und schlussendlich auch die Vertreibung der Deutschen nach der Niederlage der deutschen Wehrmacht. Zusammenfassend konstatiert der Bundespräsident, dass die tschechisch-deutsche Geschichte auch eine Geschichte des Leidens ist. In diesem Sinne sei es erstaunlich, dass es heute möglich ist, von Verständigung und Versöhnung zwischen beiden Nationen zu sprechen.
Vaclav Havels Leitspruch „in der Wahrheit leben“ könne die Zuversicht auf die Kraft des Dialogs und Durchdringung von Kulturen stärken. Dieser Weg habe sich nach Gauck als dauerhafter erwiesen als die gewaltsame Durchsetzung einer Einheitskultur.
Von Vaclav Havel als einem Vorbild zu hören, ist mir nicht fremd. Durch den Vortrag des Bundespräsidenten wurden Assoziationen in mir wachgerufen, die im Alltagstrott verloren gegangen waren. Jetzt weiß ich wieder, warum ich Prag so toll finde!