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Der Autor

2008 jähren sich zum 40. Mal jene Ereignisse, die allgemein unter der Chiffre "1968" subsumiert werden. Das aber steht im Gegensatz zur Heterogenität der historischen Ereignisse und zur Vielfalt ihrer Deutungsmöglichkeiten.

Seit Anfang des Jahres wird in den Medien und in der Öffentlichkeit erinnert, gestritten, polemisiert und glorifiziert. Es ist Zeit für einen Zugang, der der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit des Themas gerechter wird.

Ein Projekt von Zipp – deutsch-tschechische Kulturprojekte, einer Initiative der Kulturstiftung des Bundes; Centrum experimentálního divadla/Divadlo Husa na provázku (Zentrum für experimentelles Theater/Theater Die Gans an der Schnur, Brünn); Divadlo Archa (Archa Theater, Prag); Kampnagel, Hamburg; Sophiensaele, Berlin; Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

Im Internet: www.68-89.netwww.68-89.net
Bildnachweis:
68-89.net

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Rede von Rudi Dutschke in der Prager Karlsuniversität

Rudi Dutschke fuhr mit seiner Frau Gretchen und seinem am 10. Januar 1968 geborenen Sohn Hosea-Che nach Prag. Er war zur christlichen Friedenskonferenz eingeladen. Im gleichen Saal der Prager Karlsuniversität, in dem Dutschke am 9. April 1968 sprach, war wenige Tage zuvor Alexander Dubček aufgetreten.

Hier ein Auszug aus der Rede, in der sich Dutschke vor allem mit der Situation in Prag befasst:


Und jetzt vielleicht noch etwas was für die Diskussion innerhalb der tschechoslowakischen Demokratisierungstendenzen wichtig sein könnte, dass dem kapitalistischen System von Demokratie als einer repräsentativen Demokratie, dass das keine Alternative ist zur stalinistischen Demokratieform, wie sie Demokratie verstanden haben, sondern dass die alternative zur formalen bürgerlichen Demokratie, wo der einzelne nicht an Entscheidungen beteiligt ist, sondern nur Objekt der etablierten Institutionen ist, dass dem entgegengestellt werden muss eine Produzentendemokratie, die getragen wird von den Produzenten in den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft, ob nun Fabrik, Schule, Universität oder was auch immer.
In all diesen Institutionen und Sphären der Gesellschaft haben Selbstorganisationen, temporäre Führungen die kontrolliert sind und bestimmt sind durch bewusste Kontrolle von unten, durch die Menschen in den einzelnen Sphären, durch die Menschen in den einzelnen Institutionen.
Marx spricht 1845 in den Feuerbach-Thesen, ich glaube es ist die dritte, der Erzieher muss erzogen werden. Dieses Prinzip müsste eigentlich das Prinzip jedes demokratischen Aufbaus sein in sozialistischer Form. Die kommunistischen Parteien in Osteuropa haben in den letzten Jahrzehnten dieses Prinzip konterrevolutionär missbraucht. Sie waren unfähig dieses Prinzip schöpferisch anzuwenden, waren unfähig, sich erziehen zu lassen, durch eine von ihnen mitinitiierte Selbsttätigkeit von unten. das scheint mir ein ganz entscheidender Punkt zu sein, dass die stalinistische Form des Sozialismus, sagen wir genauer die autoritäre Form des Sozialismus unfähig ist, dieses revolutionäre Organisationsprinzip einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft, das die temporären Führungen, dass die Partei auch erzogen werden muss und jederzeit die Fähigkeit haben muss, Lernprozesse und Erziehungsprozesse doppelseitig zu verstehen. Auf der einen Seite Lernprozesse und Erziehungsprozesse von oben zu initiieren aber auch Lernprozesse und Erziehungsprozesse von unten nach oben zu reflektieren und verselbstständigte Bürokratien und zusätzliche, unnotwendige Unterdrückung von oben zu beseitigen. Und das geschah bisher in Osteuropa, in den sozialistischen Ländern in den letzten Jahrzehnten nicht. Ich würde den Stalinismus, also den autoritären Sozialismus definieren, als eine Herrschaft einer zentralen monopolistischen Bürokratie, die unnotwendig und zusätzlich ist. Das Maß der notwendigen Repression über die Menschen auf der Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte, auf der Grundlage der Entwicklung des Bewusstseins, sagen wir es positiv, das Maß der möglichen Freiheit wurde nicht bestimmt durch die Bewusstheit und das Bewusstsein der Menschen selbst, sondern wurde bestimmt durch bürokratische Entscheidungen von oben und jeder Ruf nach Freiheit, nach individueller und gesellschaftlicher Freiheit wurde denunziert als Konterrevolution.
Nun dieser Aspekt meiner Ausführungen muss begriffen werden im Zusammenhang mit dem, was ich noch sagen will über Demokratisierung in Osteuropa, in den sozialistischen Ländern.
Denn über unsere Bewegung darüber kann noch manches in der Diskussion gesagt werden. Ich möchte hier die Gelegenheit in Prag nicht vergehen lassen auch etwas zu sagen über das, was ich hier in Prag vorgefunden habe, was ich bisher davon weiß, was ich davon halte, dass möchte ich doch schon jetzt hier noch sagen.
Ich meine, dass was hier in der Tschechoslowakei geschieht ist meiner Ansicht nach der erste notwendige Schritt und es ist überreif gewesen, dass es geschieht. Auf der anderen Seite möchte ich meinen, dass damit auch Gefahren gegeben sind, Gefahren, dass es eine Palastrevolution ist, eine Palastrevolution, die von oben initiiert ist, die von unten nur in manchen Sphären der Gesellschaft Widerhall findet, und so die Spezialisten der Macht innerhalb des Zentralkomitees den Revolutionsprozess allein lenken ohne eine schöpferische Wechselwirkung mit einer bewusst gewordenen Massentätigkeit in allen Sphären der Gesellschaft von unten.
Die Frage ist also, ob es gelingt den Demokratisierungsprozess als Bewusstwerdungsprozess in den verschiedensten Institutionen der Gesellschaft so zu gestalten, dass es nicht zu einer Übernahme bürgerlicher demokratischer Modelle kommt, bestimmter Oppositionsmodelle, Mehrparteiensystem, vielleicht eine christliche und eine andere Partei, sondern das es dazu kommt, eine Demokratisierung durchzuführen, die auf der Grundlage der wirklichen Basisrevolution also der Verstaatlichung der Produktionsmittel, die jetzt fortgeführt werden muss in Richtung Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Ich will meinen in Osteuropa ist erreicht die Verstaatlichung der Produktionsmittel aber die Vergesellschaftung wäre die wirkliche Auflösung der Widersprüche, das würde aber bedeuten: Produzentendemokratie – Arbeiterdemokratie in den Fabriken, Studentendemokratie in den Universitäten und so in anderen Sphären der Gesellschaft. Wenn diese Form der Demokratisierung sich durchsetzen könnte und wirklich eine schöpferische Wechselwirkung zwischen politischer Führung und bewusst werdenden Massen stattfindet, würde ich meinen, kann man bürgerliche demokratische Modelle vermeiden und nicht einen Schritt zurückgehen sondern einen wirklichen Schritt nach vorn und so ein Modell setzen für die Verbindung von Freiheit und Demokratie, was auch auf die anderen sozialistischen Länder wirkliche Auswirkungen haben könnte.
Und ich meine mit sozialistischer Demokratie und mit Entfaltung individueller und gesellschaftlicher Freiheit keine Freiheit für die Konterrevolution. Und so will ich das auch noch erklären.
Die Frage ist ja jetzt, wer bestimmt was Konterrevolution ist. Wir überlasen das halt nicht einem Kurt Hager oder Gomulka das zu tun.
Aber Rosa Luxemburg hat uns vielleicht doch einen wichtigen Hinweis gegeben, auf das was damit gemeint sein könnte. Wenn sie in der Kritik der russischen Revolution schreibt: 1. wir wollen nicht die Demokratie abschaffen, sondern die Demokratie entfalten, und 2. Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden, so meint sie damit wirklich nicht die Freiheit der Faschisten oder die Freiheit derer, die die alte Gesellschaftsordnung wieder einführen wollen, sondern sie meint die Freiheit, die entsteht auf der Grundlage der Akzeptierung einer Gesellschaftsordnung, die sich dadurch auszeichnet, das die Vergesellschaftung der Produktionsmittel unwiderruflich geschehen ist. Auf dieser Grundlage ist eine multidimensionale Sicht der Wirklichkeit möglich und notwendig; auf dieser Grundlage äre der erste Schritt zum Beispiel eine Zulassung von Fraktionen innerhalb der kommunistischen Partei.
Das wäre ein erster realer Demokratisierungsprozess, der den innerparteilichen Demokratisierungsprozess institutionalisiert und nicht nur jetzt in diesen Monaten der Diskussionseuphorie und der Demokratisierungseuphorie allen Schichten und Gruppen innerhalb der Partei gestattet zu diskutieren, sondern auch auf lange Sicht innerparteiliche Demokratie institutionalisiert. Um auch da noch eine kurze historische Anmerkung zu geben, Lenin machte 1921 in einer Situation der äußersten Bedrohung der Sowjetunion das Fraktionsverbot auf dem 10. Parteitag. Stalin machte mit diesem Fraktionsverbot, das für Lenin nur gedacht war als eine temporäre Notmaßnahme der Revolution, machte daraus ein Herrschaftsinstrument zur Unterdrückung sozialistischer Alternativen, zur Unterdrückung der innerparteilichen Demokratie. Und so meine ich, dass die Auflösung des Fraktionsverbots in den kommunistischen Parteien ein erster Schritt wäre für eine institutionalisierte innerparteiliche Demokratie, die es möglich macht, verschiedene sozialistische Interpretationen der Wirklichkeit wirklich auch stattfinden zu lassen, ohne sie zu denunzieren als feindliche, westliche oder konterrevolutionäre Praktiken.
Und als allerletztes will ich noch sagen, der Prozess der inneren Demokratisierung in der Tschechoslowakei kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn er verbunden ist mit einer revolutionären Außenpolitik. Was meine ich mit einer revolutionären Außenpolitik? Damit meine ich eine Politik, die der Ideologie der friedlichen Koexistenz nicht anheim fällt. Damit meine ich eine Politik, die begreift die Weltmarktmechanismen und die Situation der Dritten Welt innerhalb dieses Weltmarktmechanismus, das heißt eine Politik die fähig ist zu begreifen, dass zur Zeit die sozialistischen Länder stillschweigende Komplizenschaft mit den Ausbeutungsländern des Westens eingehen in Bezug auf die Dritte Welt.
Da zum Beispiel die Kredite der sozialistischen Länder nach Lateinamerika, an irgendwelche Oligarchien oder die Waffensendungen nach dem Iran oder … (?) oder in Richtung anderer oligarchischer Systeme und halt in feudalistische Systeme, dass diese Praktiken aufgegeben werden müssen und dass eine revolutionäre Außenpolitik eine Außenpolitik wäre, die sich solidarisiert materiell und ideenmäßig mit den nationalen Befreiungskämpfen in der Dritten Welt, das heißt innere Demokratisierung wird unglaubwürdig, wenn sie nicht erklärt, die internationale Situation es Kampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Revolution und Konterrevolution. Die Ideologie der friedlichen Koexistenz besteht meiner Ansicht nach gerade darin, dass sie das Wesen der internationalen Auseinandersetzungen nicht erkennt, dass sie das Wesen der neusten imperialistischen Formen mit Absprachen in Mitteleuropa, sich in Mitteleuropa einen freien Raum zu schaffen, um in der Dritten Welt umso effektiver die Befreiungsbewegungen niederschlagen zu können, dass wenn es nicht gelingt diese Ideologie der friedlichen Koexistenz und die Praxis des Imperialismus zu erkennen, dass dann die innere Demokratisierung auf ihre Schranken stoßen wird, denn heute ist mehr den je der Prozess der inneren revolutionären Demokratisierung abhängig von internationalen Auseinandersetzungen und wer sich scheinbar nur auf die nationalen Komponenten konzentriert und dabei internationale Auseinandersetzung vergisst, gerät in Gefahr schließlich und endlich zum Spielball anderer Interessen zu werden.

Von Rudi Dutschke

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