Prag - Tag 31+x: Habe die Tage nicht gezählt, die seit dem WM-Finale vergangen sind, doch meine Tage sind gezählt - zumindest diejenigen, die ich im Urlaub verbringen durfte. Und der führte mich in das Land der Verlierer, also nur des Finales, nicht des ganzen Turniers. Brasilien war mir zu weit, England zu teuer, Holland wettermäßig zu unbeständig.
Doch wer kann sich noch an den Sieger erinnern? Ich nicht.
Ins Land des Final-Verlierers (oder wie der Sprachwächter mit dem Decknamen „Zwiebelfisch“ vorschlägt: Finalenverlierers) kam ich gerade rechtzeitig, um die Diskussion um den göttlichen, aber doch so menschlichen und manchmal umstrittenen, weil ab und an jähzornigen Zidane mitzubekommen. Natürlich nur in den Zeitungen. Denn medientechnisch wurde ich ins 19. Jahrhundert zurückgeworfen, in mein Iglu-Zelt auf einem Campingplatz ohne Radio, Fernseher sowieso und natürlich Internet. Doch auch das hat seine Reize.
Zurück ins 19. Jahrhundert
Während ich also im angeblich unfranzösischsten Teil Frankreichs, in der Bretagne, den Wellen des Meeres lauschte, rauschte der Blätterwald an mir vorbei und übertönte mit seiner Diskussion um Zidane sogar die Tour de France. Welche - und das möge mir glauben, wer will, nie wieder so spannend, so unvorhersehbar und schließlich so faul (hier schreibt man vielleicht sogar besser englisch foul) sein wird wie diesmal.
Doch zurück zu einer anderen Sportart, dem Kickboxen. Dessen Regeln ich zugegebenermaßen nicht kenne, und deshalb nicht mal mit Bestimmtheit sagen kann, ob Kopfstöße dort erlaubt sind. Tun wir aber mal so, als seien sie es. Doch leider ist Kickboxen kein Bestandteil des Fußballs und somit sind etliche der dort sauber angewandten Techniken beim Ballsport verboten. Nicht nur verboten, sondern strikt untersagt, was nichts anderes heißt, dass der Anwender umgehend vom Platz geschickt wird. Ihm wird der Spielerpass entzogen - was hingegen dadurch versüßt wird, dass am Stadionausgang bereits die Agenten des Kick-Boxens stehen und mit Aufnahmeanträgen wedeln. Gleichzeitig versprechen sie die baldige Einführung einer Profiliga und so einen weiterhin gesicherten hohen Lebensstandard.
Über Kick-Boxen, Judo und Ju Jutsu
Nur bei Zidane hatten sie natürlich Pech, denn der hat - wie ich aus einem Comic erfahren konnte, der das Leben des Nicht-immer-Göttlichen nachzeichnet - in seiner Jugend Judo geübt. Und bei dieser Sportart ist das Stoßen mit dem Kopf tatsächlich verboten. Es wird hingegen beim Ju Jutsu, welches früher Jiu Jitsu hieß, angewendet. Diese Sportart wurde einst aus mehreren anderen ostasiatischen Kampfsportarten eingedampft, synthetisiert, erkalten lassen, bis sich eine brauchbare Selbstverteidigung, insbesondere geeignet für Frauen, herauskristallisiert hatte.
Erst Empörung...
Bon, so weit die Spekulation, allons plus, wie man im Lande des Finalenverlierers zu sagen pflegt. Gleich montags nach dem Endspiel ist die Tagespresse geschockt. Die Tageszeitung, die übersetzt den schönen Namen „die Befreiung“ trägt, entlässt (eine weitere Bedeutungsvariante dieses Wortes) Zidane in ihrem Untertitel gleich aus der französischen Staatsbürgerschaft und stellt die Einbürgerungsfrage - übrigens dort zu jener Zeit ein sehr heißes politisches Thema - gleich mit in Frage.
Im Land des Finalenverlierers gilt ja nicht unser Blutrecht, was es uns ermöglicht hat, die Schlesier Klose und Podolski einzudeutschen. Es gilt das Geburtsrecht. Und das macht Zidane also zu einem französischen Staatsbürger mit algerischer Herkunft. Um genau zu sein, mit Berber-Herkunft, der jedoch im Lande des Finalenverlierers das Licht der Welt erblickt hat.
Tag 31+1, also mein Anreisetag, brachte wohl einen erheblichen Wechsel in der öffentlichen Meinung, wie ich an Tag 31+2 in der Presse nachlesen kann. Denn an jenem Tag wendet sich der Herausgeber der täglichen Sportzeitung mit dem übersetzten Namen „Die Mannschaft“ zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden an die Leser. Diesmal bereits auf der Titelseite und entschuldigt sich bei diesen, den Kindern, den Vätern und nicht zuletzt bei Zidane für das Editorial vom Vortag.
... dann Verzeihen...
Geübt in der Textsynopse rekonstruiere ich den ungefähren Inhalt des Gesagten. Insbesondere bedauert der Herausgeber die Benutzung eines Begriffs aus der deutschen Philosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der anschließend auch im Lande des Finalvelierers strak in Misskredit geraten war.
Dabei handelt es sich um Nietzsches Begriff des „Übermenschen“ aus dem „Zarathustra“. Die Emotionen und der genius locii des Berliner Olympiastadions - die Kultstätte der Nazis bei den Olympischen Spielen 1936 - hätten ihn wohl zu diesem faux pas geritten. Der Nicht-immer-Göttliche sei eben auch nur ein Mensch – wie übrigens der Herausgeber selbst auch.
„Wo ist doch der Blitz, der euch mit der Zunge lecke? Wo ist der Wahnsinn, mit dem ihr geimpft werden müßtet?
Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn!“
(So spricht Zarathustra in seiner Vorrede, drittes Kapitel. Da steckt was Wahres drin.)
Nun, aber während meines Anreisetages war die Prozedur des öffentlichen Verzeihens und der Danksagung gegenüber ZZ bereits in vollem Gange. Kein Wunder also, dass auch der Herausgeber der täglichen Sportzeitung seinen Kurs ändern musste. Ich las also nach dem Entschuldigungsartikel, dass Staatspräsident Chirac die Richtung vorgegeben hatte. Er empfing Mannschaft und Trainer bereits an Tag 31+1 öffentlich und verzieh ZZ. Dieser blieb zwar noch ein wenig betrübt und einsilbig, doch die Stimmung im Land des Finalenverlierers hatte sich gedreht: Merci Zizou!
... schließlich Dankbarkeit
Anschließend wurde jedoch die Frage heiß diskutiert, was denn eigentlich der andere, der Provokateur gesagt habe. Etwas Rassistisches war es wohl nicht, das wurde bereits am Tag 31+3 klar. Doch noch herrschte Schweigen über den wahren Inhalt. Und das gab den französischen Zeitungen in unnachahmlicher Weise Raum, diesen Fall zu diskutieren, seine gesellschaftspolitische und insbesondere ästhetische Dimension. Einfach hinreißend, diese Eleganz, Eloquenz und das sprachliche sowie gedankliche Niveau solcher Debatten im Lande des Finalenverlierers!
So etwas halte ich bei uns für unmöglich. Dort ist das Niveau des Sportjournalismus um Lichtjahre zurück. Dort kann sich auch keine tägliche Sportzeitung etablieren. Nur solche Halbwochen-Blätter mit ohne sprachlichen und gedanklichen Tiefgang. Deshalb ist der böse Ausrutscher des Herausgebers der täglichen Sportzeitung nur um so unverständlicher.
Nein, er offenbart einen wichtigen Moment des französischen öffentlichen Menschen. Monsieur hat sich gehen lassen, von negativen Emotionen hinreißen lassen, das ist degoutant, das macht man nicht. Von positiven, ja, das ist erlaubt, doch nicht vom Ärger, das darf nicht sein. So stellt man sich nämlich auf die gleiche Kultivierungsstufe wie jener Berber, bei dem das wilde Blut vierzehnmal in seiner Karriere hervorbrach und mit einer roten Karte - unter anderem auch nach Kopfstößen - bestraft wurde.
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag