Alle Mannschaften haben sich präsentiert, jetzt fallen bereits die ersten Entscheidungen. Ich lasse den Spieltag ruhig angehen und nehme von den ersten beiden Spielen nur die letzten 25 Minuten mit. Zum einen lasse ich mir die seltene Möglichkeit einer Siesta nicht entgehen, die sich bis Mitte der zweiten Halbzeit im Spiel zwischen Finnland und Russland hinzieht. Beim livestream des Tschechischen Fernsehens eingeschaltet, sehe ich bemühte Finnen, die vergebens einem Rückstand hinterherlaufen, und spielerisch bessere Russen, die die vorzeitige Entscheidung verpassen. Mit dem 1:0 eröffnen sich beiden Teams einige Optionen, beide stehen bei drei Punkten und können sich berechtigte Hoffnungen auf ein Weiterkommen machen.
Schafft Deutschland einen der vier besten Gruppenplätze?
Was heißt das aber für Deutschland und die Chancen auf einen der vier besten dritten Plätze, die das Ticket zum Achtelfinale bedeuten? Drei Punkte hätte Deutschland auch bei einem Sieg gegen Ungarn. Dann hängt alles vom Torverhältnis ab. Nehmen wir an, dass Belgien in dieser Gruppe alle Spiele gewinnt, könnte sich die Konstellation ergeben, dass drei Mannschaften bei drei Punkten stehen bleiben. Auf jeden Fall wird der Dritte dieser Gruppe mehr als die Minimalzahl von einem oder zwei Punkten auf dem Konto haben. Ich sehe bereits, es wird eng für Löw.
Zum anderen montiere ich nach diesem Spiel ich zwei Jalousien, schraube die Beine an einen Küchentisch und stelle ihn auf. Ein Wunder ist mittlerweile geschehen, die Mutter meiner Tochter ist aktiv geworden und die Wohnung nimmt zunehmend akzeptable Wohnstrukturen an. Nach meiner handwerklichen Tätigkeit schaffe ich das Schlussviertel von Wales gegen die Türkei. Das Spielgeschehen gleicht wie ein Ei dem anderen dem vorhergehenden Spiel, eine Mannschaft läuft eher ungestüm und wenig geschickt einem Rückstand hinterher, die andere Mannschaft verpasst den k.o-Schlag. Meine Tochter ruft mit der üblichen Begeisterung, „ich habe gekackt“. Da hilft nichts, ich muss ihr gleich den Allerwertesten säubern und das Töpfchen lehren, das duldet keinen Aufschub, selbst wenn das Spiel in die Nachspielzeit einbiegt.
Bale bereitet mit Bauerntrick vor
Zurück sehe ich noch, wie Bale nach einer kurzen Ecke die türkische Abwehr narrt und einfach an der Außenlinie aufs Tor zuläuft. Von dort passt er zurück und ein Waliser kann freistehend zur Entscheidung einschießen. Vor dem endgültigen Abpfiff gibt es noch ein ordentliches Handgemenge und Herumschubsen im walisischen Fünfmeterraum, nach dem der Schiedsrichter ein paar gelbe Karten verteilt. Dann ist Schluss und Wales steht nach dem 2:0-Sieg bei vier Punkten. Das könnte unter Umständen bereits für das Weiterkommen reichen. Die Türkei muss hoffen, durch einen Sieg im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz noch als Dritter ins Achtelfinale einzuziehen.
Kampf um Platz drei
Doch die Schweiz braucht selbst die Punkte, denn gegen Italien haben die Eidgenossen rein gar nichts zu bestellen und stehen jetzt bei einem Punkt und einem Torverhältnis von -3 (in Worten: minus drei). Ein Unentschieden im letzten Spiel wird definitiv zu wenig sein. Das Spiel selbst sehe ich mal wieder im Fraktal, wo ich vor dem eingeschalteten Fernseher nur zwei halbgetrunkene Bierhumpen finde. „Nick kommt sicher noch runter“, beruhigt mich Karla, die Barkeeperin. Oben bin ich schon Radio Jason begegnet, den das Loch im Kopf sichtlich gedämpft hat. „Bier darf ich trinken, aber keine Schnäpse mehr.“
Ronaldos Pressekonferenz
Esterhazy kommt herunter. „Hast du heute Ronaldo gesehen?“ „Nein, habe ich nicht. Aber du meinst wohl gestern.“ „Nein, heute, bei der Presskonferenz. Hast du das gesehen?“ „Nein, habe ich nicht, was für eine Pressekonferenz?“ „Die über das Spiel gestern. Hast du es gesehen?“ „Nein, habe ich nicht.“ „Hast du nicht gesehen? Er setzt sich da so hin, vor ihm stehen zwei Flaschen Coca Cola. Hast du das gesehen?“ „Nein, das habe ich nicht gesehen.“ Ich kann immer noch nicht erkennen, was daran so erzählenswert ist und warte geduldig, bis Esterhazy auf den Punkt kommt. „Ronaldo setzt sich hin, nimmt die beiden Flaschen und stellt sie beiseite. Hast du es gesehen?“ „Nein.“ Ich kenne Esterhazys Marotten noch nicht so gut und lasse ihn in seinem Tempo zum Punkt kommen. „Er stellt die zwei Flaschen beiseite.“ „Aha, er stellt also die beiden Flaschen beiseite.“ „Verstehst du, da stehen zwei Coca Cola Flaschen vor ihm und er stellt sie beiseite. Dann sagt er, ich trinke keine Cola, ich trinke nur Wasser.“ „---“ „Danach ist der Kurs von Coca Cola um zehn Milliarden gefallen.“ So so, denke ich, da ich aber darauf nicht wie gewünscht reagiere, erzählt mir Esterhazy die Geschichte nochmals, bis in Rom Chiellini nach einem Eckball, bei dem sich zwei Schweizer Verteidiger behindern, ein Tor schießt. Ekstatische Freude auf der italienischen Bank. Esterhazy kommentiert: „Italien ist sehr gut, für mich sind sie Favorit.“ Dann geht er hinauf, vielleicht eine rauchen.
Nick verpasst ein Tor, das nostalgische Gefühle weckt
Als er wiederkommt, ist Nick bereits eingetroffen. „Wales hat sehr gut gespielt.“ „Ich habe nur die letzten 25 Minuten des Spiels gesehen.“ „Wales hat wirklich gut gespielt.“ Esterhazy kommt wieder und wundert sich nicht, dass es wieder 0:0 steht. In Zeiten des Video-Assis kann es schon mal passieren, dass nachträglich ein Handspiel entdeckt wird. Während Nick das freie Internet für das Studium des Guardian ausnutzt, fällt der reguläre Führungstreffer für Italien. „Nick, du musst auch ab und zu mal auf das Spiel schauen“, ermahne ich ihn. Der Spielzug weckt bei mir nostalgische Gefühle. Jemand wird auf außen frei gespielt, geht bis zur Grundlinie durch und passt genau zwischen den Verteidigern auf einen in die Lücke stoßenden Mitspieler, der nur noch den Fuß hinzuhalten braucht. Das spielte Deutschland auch mal, einst, als die Ära Löw noch jung war und sein Team voller Überraschungen.
Italien beherrscht den nördlichen Nachbarn locker, in der zweiten Halbzeit stoßen Radio Jason und Kip hinzu. Jemand versucht, mit mir über das Deutschland-Frankreich Spiel vom Vortag zu reden, alle versichern, dass Deutschland auch gut gespielt hat, ich habe aber keine Lust ausführlich zu antworten. „Ja, ach ja, es war genau das Spiel, wie es zu erwarten war“, bringe ich noch zwischen zusammengekniffenen Zähnen heraus. Damit ist das Thema beendet. Kip versucht sich an Witzeleien über Italien, was ich geflissentlich überhöre.
Italien schießt in zwei Spielen sechs Tore
Zwei schöne Weitschusstore Italiens schrauben das Ergebnis auf 3:0. Wann hat zuletzt ein deutscher Spieler aus dem Spiel heraus einen Schuss von mehr als 20 Metern aufs Tor abgegeben? Geschweige denn, getroffen? Meine Seele beginnt zu schluchzen.
Ich versuche etwas aus Radio Jason über mögliche Anbieter von Sofas herauszubekommen, doch die entscheidenden Informationen sind nicht zu erhalten. Kip informiere ich noch pflichtschuldig über die erfolgreiche Verwendung der mir geborgten Bohrmaschine, die mit dem kleinen Kopf, und gehe bald nach Hause. Auf dem Weg fällt mir ein quer über den Bürgersteig geparkter Van mit ukrainischem Kennzeichen auf. Im ersten Impuls will ich aus Protest dagegentreten, sehe vor meinem geistigen Auge ein paar Männer herausspringen und mich in die Mangel nehmen. Ein paar Meter weiter sehe ich, wie eine Gruppe kurzhaariger russischsprachiger Männer, garniert mit wenigen Frauen die Rudelbildung des Wales-Türkei Spiels nachstellt. Ich passiere unbehelligt und lasse mir die Mulmigkeit nicht ansehen.