Aus technischen Gründen die ersten zehn Spiele der EM 2020 im Jahr 2021 zusammengefasst, wie seit etlichen Turnieren von Gerd Lemke.
Nun ist sie also da, die EM der Merkwürdigkeiten, die EM 2020 im Jahr 2021. In jedem Stadion, steht es deutlich sichtlich geschrieben, EM 2020, an der Bande auf Höhe der Mittellinie, wo die Hauptkamera das Mittelfeldgeschehen in einer Halbtotale einfängt, gleich neben einer unendlich langen Werbung auf Chinesisch, deren Botschaft mir bisher entgangen ist. Doch damit nicht genug, beim Eröffnungsspiel in Rom spielt Italien im Auswärtstrikot, deshalb orientiere ich mich nicht gleich, wer eigentlich wer ist. Wie gewohnt komme ich exakt pünktlich zum Anpfiff ins Fraktal, wo mich hinlänglich bekannte Personen erwarten, Strawberry-Nick, Leicester-John, Drunken-Tom. Letzterer ist Amerikaner und ersetzt seine nationalen Vorlieben durch interessante Wetten. An die Merkwürdigkeit, dass ein Land, welches zu 90% in Asien liegt, an der EM teilnimmt, haben wir uns mittlerweile hinlänglich gewöhnt, obwohl sich Erdöganistan mental und kulturell wieder von Europa entfernt. Doch jegliche Anspielungen auf die Verknüpfung politischer Tendenzen mit Fußball werden brüsk abgelehnt. Nein, man kann Sympathien für die Türkei haben, ohne die Politik des Möchtegern-Diktators zu unterstützen. Ja, das stimmt, Erdögan war auch gar nicht so verkehrt, doch mittlerweile führt er das Land wirtschaftlich zum Abstieg und klammert sich mit allen Mitteln an die Macht. Mit diesem Gehabe nähert er sich deutlich den Potentaten in den arabischen Ländern, die gewöhnlich durch einen Staatsstreich von der Regierung entfernt. So manchen hat das auch den Hals gekostet, andere mussten zumindest ins Exil.
Ibrahimovic fehlt
Ich habe anstrengende Wochen hinter mir, einen Umzug nach 17 Jahren in derselben Wohnung. Ich erinnere mich, die alte Wohnung habe ich während der EM 2004 gestrichen. Abends, noch voller Farbklekse habe ich in einer damals neuen Bar, Le metro, Ibrahimovics Hackentor gegen England bewundert. Unglaublich, dass er es fast wieder zur EM geschafft hätte, nur eine blöde Knieverletzung hat ihn gebremst. Nachdem die Kneipe ein paar Mal die Besitzer und den Namen gewechselt hat, ist sie heute ein veganes Restaurant, in dem ich wohl kein Spiel der EM sehen werde.
Es ist wohltuend ruhig, damit meine ich nicht still, aber die Kommentare drehen sich um Fußball. Radio Jason fehlt, kein Fehler, denn Ahnung vom Fußball hat er nicht wirklich, dafür aber den unbedingten Willen, den Raum ununterbrochen zu beschallen. Das kann er – mehr oder weniger gekonnt – in vier Sprachen, ohne jemals wirklich etwas Substantielles zu sagen. Drunken Tom klärt uns auf, dass Radio Jason in der Nacht von einem Barhocker gefallen ist und mit einem Loch im Kopf ins Krankenhaus gebracht wurde. An den folgenden Tagen erfahren wir stückweise, dass er lebt, wieder zu Hause ist und es ihm gut geht.
Nie wieder Vodaphone
Ja, Jason hat am Vortag versucht, mich betrunken zu machen, um meinen Frust zu besänftigen, denn ich war zwar rechtzeitig vor der EM mit dem Umzug fertig geworden – am Mittwoch, doch Vodaphone war nicht fähig, mein Internet anzuschließen. Ein gemütlicher älterer Herr war morgens erschienen, zog seine Fußballschuhe – das ist keine Erfindung – aus und stellte fest, dass in der Buchse an der Wand kein Signal war. Dann wollte er in den Keller, zu dem ich keinen Schlüssel besitze, konnte seine Kellerschlüsselkontaktperson telefonisch auf dem Festnetz nicht erreichen, ging noch zwei Mal durch die Wohnung auf der Suche nach einer Lösung, erklärte etwas von einem Kabel durch einen Schacht und einem Bergsteiger, der durch den Schacht müsse, ließ mir noch zwei Formulare da und versprach, dass jemand von Vodaphone mich kontaktieren werde, um einen Termin abzumachen. Dann war er wieder weg und ich ohne Internet. Ich sagte gleich alle online Termine für den Tag ab, organisierte einen Ersatzplatz mit Internetzugang für den Folgetag und berechnete die Schäden, die mir durch schwaches Signal und Signalausfall in der vorhergehenden Woche, die Unfähigkeit, die neue Wohnung schnell anzuschließen in dieser Woche auf 5000 kc. Als sich bis zum Folgetag niemand von Vodaphone gemeldet hatte, beschloss ich, den Operator zu wechseln. Kurz und gut, bestellt am Freitag, kam der Techniker am Montag und ab dem vierten EM-Spieltag war ich wieder online. Ich erhielt noch eine sms von Vodaphone de Inhalts, man hoffe, die Installation des Internets sei erfolgreich verlaufen und per E-Mail eine Mahnung für die Zahlung der Monatsgebühr, aber nie einen Anruf, um das weitere Vorgehen abzusprechen.
Eröffnungsspiel: Italien-Türkei 3:0
Nun, durch diesen Umstand war ich gezwungen, die ersten EM-Spiele in der Kneipe zu schauen. Italien spielte souverän, die Türkei half durch ein Eigentor zum 1:0 und einen grausamen Fehlpass des Torwarts vor dem 3:0 kräftig mit, Italien gut aussehen zu lassen. Strawberry Nick leitete daraus ab, wie gut Italien sein müsse, ich wandte ein, dass die Türkei nun kein Maßstab sei, das zu beurteilen, aber er blieb felsenfest dabei: Die Türkei ist kein schlechtes Team.
Am folgenden Tag, dem Samstag, stand ich spät auf und sagte mein persönliches Programm, Dinge in der neuen Wohnung zu montieren, gleich ab. Das wäre wahrscheinlich nicht gut gegangen, nach nahezu fünf Monaten Abstinenz war ich das abendliche Biertrinken einfach nicht mehr gewöhnt. Außerdem fand ich einen rätselhaften Anruf einer Gabriela auf meinem Handy, eingegangen zwischen 1 und 2 Uhr nachts. Wer war Gabriela, warum hatte man Nummern ausgetauscht, hatte das einen anderen Sinn als den üblichen, wenn eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann Telefonnummern austauschen? Da die Nummer sehr alt sein musste, beschloss ich, der Sache erst mal nicht auf den Grund zu gehen. Lieber würde ich mal wieder ins Barré, einer Spätbar, gehen und mich dezent nach einer Gabriela erkundigen.
Es gibt keinen britischen Patriotismus
Ins Fraktal kam ich zur zweiten Hälfte, als die Schweiz bereits 1:0 gegen Wales führte. Drunken Tom war der einzige Zuschauer, weil er für seine Kombi-Wette ein Unentschieden brauchte. Die Engländer saßen oben auf der Terrasse und zeigten keinerlei britischen Patriotismus. Drunken Tom bekam sein Unentschieden, auch weil der Video-Assistent ein hauchdünnes Abseits auf seinem Bildschirm ausgemacht hatte, als die Schweizer sich wieder in Führung schossen. Ich ging erst Mal zurück zur neuen Wohnung, etwas kochen und essen und beschloss, das zweite Spiel zu überspringen.
Dass das kein Fehler war, erfuhr ich dann am Abend, denn das Spiel war abgebrochen worden. Drunken Tomm war ganz aufgeregt, denn er brauchte einen Sieg Dänemarks über Finnland und hatte keine Informationen über den Weitergang des Spiels. Eriksen hatte eine Herzattacke, wie wir später erfuhren, einen Herzstillstand und wurde noch auf dem Platz wiederbelebt. Danach wurde das Spiel abgebrochen und wir blieben ohne weitere Information. Also schauten wir uns das Abendspiel an, an das ich mich momentan kaum noch erinnere. Wer hat da gespielt? War da Holland gegen die Ukraine, ein flottes 3:2, bei dem ich das zweite niederländische Tor exakt zwei Minuten im Voraus prognostizierte? Oder war das erst am Sonntagabend? Zumindest erfuhren wir, dass Finnland Dänemark 1:0 besiegt hatte, damit war Drunken Toms Kombiwette geplatzt. Wir durften auch noch den verpassten Rest des Spiels sehen, in dem Dänemark, sichtlich geschockt und unkonzentriert, noch einen Elfmeter verschoss.
Jetzt gewinnt England das ganze Ding
Gut, am Sonntag spielte England gegen Kroatien um 15h und brachte einen doch weitgehend ungefährdeten 1:0 Sieg über die Zeit. Die Engländer waren zufrieden, ich ging nach Hause. Österreich-Nordmazedonien ist eines der Spiele, die kein echter Fußballfan verpasst. Nur ich, ich hatte Mühe, eine Kneipe zu finden, wo ich schauen konnte. Im Fraktal schauten sie zu meinem Entsetzen Tennis – Finale French Open -, aber ist das ein Grund, auf Fußball zu verzichten?
Während der EM schaut man kein Tennis!
Im Knapp neben Burundi lief ebenfalls Tennis, doch niemand schaute auf den Fernseher über der Bar und man schaltete mir sogar zuvorkommend um. Österreich führte 1:0, ich sah den Ausgleich, später Österreichs zweites und drittes Tor, begleitet von der ruhigen Atmosphäre in der Café-Kneipe, wie sie sich selbst nennt, wo die paar anwesenden Tschechen sich in schöner Regelmäßigkeit kleine Schnäpse hinter die Binde gossen. Arnautovic schoss ein Tor und schimpfte danach wie ein Rohrspatz, was er sagte, wissen wir nicht, aber sicher nichts Zitierfähiges. Ich glaube, Alaba war kurz davor, ihm aufs Maul zu hauen. Arnautovic ist ja hinlänglich bekannt dafür, dass er seine Nerven nicht im Griff hat – erinnert mich an die Mutter meiner Tochter. Aber das ist ein anderes Kapitel, das in diesem EM-Buch sicherlich auch mal aufgeschlagen werden wird.
Zum Abendspiel wa ich dann wieder im Fraktal, die üblichen Verdächtigen, später auch noch Käse-Gael, der mir mit gespieltem Bedauern erklärte, dass wir Deutschland – Frankreich nicht zusammen sehen können. Ich spielte den Verwunderten und erfuhr, wie er eine Karte für das Spiel bekommen hatte und nach München fahre. Aha.
Ah, es war ja Belgien – Russland 3:0
So, jetzt ist auf die Erinnerung zurück, am Samstagabend erledigte Belgien sein erstes Spiel pflichtgemäß und schoss Russland mit 3:0 ab, zwei Mal Lukaku, ja, Belgien kann es weit bringen, wenn dann auch noch de Bruyne dabei sein wird. Und Sonntagabend folgten die Niederländer mit einem zunächst souveränen, dann doch wackeligen Erfolg über die Ukraine.
Endlich Internet
So, den Montag verbrachte ich zunächst in der Schule und dann zu Hause, das Internet war pünktlich zur zweiten Hälfte von Tschechien – Schottland intsalliert und ich sah Patrick Schicks unglaubliches Tor aus 50 Metern. Die Schotten griffen zwar wütend an und sorgten für reichlich Aufregung vor dem Tor der Tschechen, die jedoch den Sieg mit Glück und Geschick durchbrachten. Das sorgt für gute Laune im Land, da war ich dann auch froh.
Tschechien – Schottland 2:0, Slowakei – Polen 2:1
Montag, der Tag der zweiten Halbzeiten, auch vom Spiel der Slowakei gegen Polen bekam ich nicht mehr zu sehen. Polen erst furios mit dem prompten Ausgleich nach Wiederanpfiff, dann unnötig hart im Mittelfeld und mit dem ersten Platzverweis im Turnier, schließlich noch ein Gegentreffer und alle Anstrengungen von Lewandowski und Co. waren vergeblich, die Slowakei gewann 2:1.
Nicht mal zum Abendspiel schaffte ich es in Freds Bar Fraktal, wo sich sicherlich die fußballinteressierten Schweden versammelt hatten. Ich brauchte ein Pause, war ausgelaugt von der erzwungenen Kneipenschauerei und ließ das 0:0 Spaniens gegen Schweden zu Hause über mich ergehen. Es war ein Spiel, von dem man sagt, Spanien hätte noch drei Stunden so weiterspielen können, ohne das Tor zu treffen, es fehlte einfach das Zielwasser, während Schwedens zwei Mal ganz überraschend vor dem spanischen Tor auftauchte und ein Verteidiger und dann der Torwart ein Gegentor verhindern mussten. So, jetzt kann Deutschland gegen Frankreich kommen, das größte Spiel in dieser Runde, jetzt bin ich startklar für die EM.