Prag - Das Drama nimmt seinen Lauf, ich mache tatsächlich zehn Überminuten ohne es zu merken. Sechs Zeitzonen südwestlich meiner beruflichen Verrichtung läuft derweil Müller an und versenkt das Leder vom Punkt. Während ich in einem Außenbezirk meine Tasche packe und zum avisierten Ort meiner Zuschauerpflicht trotte, geschieht, wiederum an jenem entfernten Ort, etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte: Kroos läuft an, bringt den Ball schön mit Schnitt an den Fünfmeterraum und Hummels köpft ein. Tor für Deutschland unter Yogi Löw nach einer Standardsituation, nach einem Eckball! Was ist nur aus dem Bundestrainer geworden, er lässt die Mannschaft mit vier Vorstoppern und ohne echten Stürmer spielen, das klingt nicht gerade vielversprechend – auf den ersten Blick.
Ich schaue gerade in einen Stadtplan, um mich zu orientieren, als Pepes Kopf sich unbeherrscht dem Müllers nähert, dem er zuvor im Luftkampf einen abgewatscht hat. Es sieht zwar nicht spektakulär aus, doch der Schiedsrichter wertet es als Tätlichkeit und zeigt rot. Schließlich fährt ein Bus vor, der mich in mein Quartier bringt, ich beschließe, auf den Rest der ersten Hälfte zu verzichten. Während wir von 380 Meter über Normalnull des Weißen Bergs, dem Ort der Niederlage der böhmischen Aufständischen 1620, ins Tal Richtung Moldau tuckern, legt Müller noch einen drauf. Bevor ich in Fred’s Bar überhaupt etwas bestellen kann, erhalte ich in knappen Sätzen den Rapport der Ereignisse und wundere mich über die große Zahl an Menschen, die zu dieser Stunde Zeit gefunden hat, sich im Stadion einzufinden.
Portugal verliert wieder gegen Deutschland
Während ich in einem Außenbezirk meine Tasche packe und zum avisierten Ort meiner Zuschauerpflicht trotte, geschieht, wiederum an jenem entfernten Ort, etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte: Tor für Deutschland unter Yogi Löw nach einer Standardsituation, nach einem Eckball!
Eigentlich brauche ich mir die zweite Halbzeit gar nicht erst anzuschauen. Einer der notorischen Iren steckt mir eine interessante Information hinsichtlich des Austragungsortes westafrikanischer WM-Spiele in Prag zu. Zunächst bekommen die Zuschauer das seltene Schauspiel geboten, wie Christiano Ronaldo bei einem Freistoß an einer Ein-Mann-Mauer hängen bleibt. Deutschland vergibt leichtfertig ein paar Konterchancen. Ich unterhalte mich mit einem deutschen Touristen, der zwischendurch etwas schauen kommt, ehe er sich wieder seiner Familie auf der Terrasse zugesellt, als die bestellten Hamburger die Treppe hinaufgetragen werden. Dann staubt Müller nach Vorarbeit des eingewechselten Schürrle noch einmal ab, ich erkläre dem Iren die Erfindung des schönen deutschen Verbs müllern.
Das deutsche Team hat ein Einsehen und stellt beim nächsten Freistoßversuch von Ronaldo niemanden mehr in die Mauer, endlich bekommt Neuer einen Ball aufs Tor und kann seine ausgeheilte Schulter testen. Er und seine Schulter halten. Fred Schwalbinho reicht mir nach dem Spiel zum Glückwunsch die Hand, ich verstehe wirklich nicht, warum, kommentiere lapidar, das war ein guter Start. Er lacht und wertet es als Understatement der Woche. Dabei weiß doch jeder, noch niemand ist nach dem ersten Spiel Weltmeister geworden.
Torlos, trostlos, zuschauerlos
Fernab vom Herzen Mitteleuropas mühen sich zwei Außenseiter der WM am Rande des Urwalds um angemessene Unterhaltung, vergebens. Ich widme mich der geordneten Nahrungszufuhr, ruhe den gefüllten Bauch in Liegeposition und verordne den Augen, dem wichtigsten Werkzeug während der WM, eine Massage.
Nigeria gegen Iran, Iran gegen Nigeria, ich kann mir nicht helfen, ich kann es einfach nicht und gehe nach Hause, statt dieses Spiel zu schauen. Ich habe so rechten Appetit bekommen und brutzele in zwei Pfannen tiefgefrorene Fritten, Zwiebeln und Schweinesteaks. Fernab vom Herzen Mitteleuropas mühen sich zwei Außenseiter der WM am Rande des Urwalds um angemessene Unterhaltung, vergebens. Ich widme mich der geordneten Nahrungszufuhr, ruhe den gefüllten Bauch in Liegeposition und verordne den Augen, dem wichtigsten Werkzeug während der WM, eine Massage. Später lasse ich mich im Radion vom Treiben auf dem saftigen Grün unterrichten. Iran und Nigeria haben nicht nur das erste Unentschieden dieser WM zustande gebracht, sondern dabei auch an Toren gespart. Herzlichen Glückwunsch! Dieses Spiel habe ich zu meinem größten Bedauern verpasst und kann vorwegnehmen, dass es sich nicht um das einzige handeln wird.
Doch greifen wir den Dingen nicht voraus, denn Jürgen Klinsmann tritt nach achtjähriger Pause wieder bei einer WM auf. Und wie! Der Sekundenzeiger ist gerade Mal zwei Dutzend Mal weitergeruckelt, als der gelernte Bäcker jubelnd herumhüpfen muss. Scheiße, ging das schnell, die USA führen in diesem nickligen Spiel lange und geben diese Führung nur kurz ab. Ich schaue in Tobi’s Bar, wo vier Amerikaner vier verschiedene Meinungen darüber produzieren, wie man den Bewohner des westafrikanischen Staates Ghana nennen muss.
Wir Deutschen haben es da einfacher und nennen ihn schlicht den Ghanaer. Oder war es der Ghanese? Ghaner käme auch noch in Frage, jedoch keinesfalls Ghanaianer, auch nicht Ghana-Mensch – eine wörtliche Übersetzung aus dem Chinesischen – oder Ghana-Mann. Nennen wir sie also der Einfachheit halber Afrikaner, dessen sich auch der amerikanische Ansager bedient, was bei Jason gleich Rassismusverdacht auslöst. Egal, Klinsmanns Truppe übersteht die Sturm- und Drangperiode von Kevin Prince Boateng und seinen Kriegern ohne Tote, nur ein paar Verwundete müssen vom Roten Kreuz vom Feld getragen werden. Ghanas Ausgleich wird mit der erneuten Führung nach einem Eckball beantwortet und dann ist Schluss. Gut gemacht, Klinsmann, aus dem Trainerlehrling der WM 2006 ist mittlerweile ein ordentlicher Geselle 2014 geworden.
Gerd Lemke