Die vielen freien Tage – Wochenende plus Kyrill und Method plus Jan Hus – schließen das Halbfinale Italien gegen Spanien ab. Um es vorwegzunehmen, natürlich gewinnt Italien, das erfahrenere Team, gegen Spanien, das überlegene Team. Effizienz schlägt spielerischen Glanz, Realismus Chancenwucher, Donnarumma seinen Widerpart, der so manches Mal vor dem Strafraum herumirrt und die Nerven von Abermillionen Fußballverrückten auf der Welt strapaziert, Reife schlägt Leichtsinn. Damit ist eigentlich alles gesagt, England zittert jetzt schon vor dem eigenen Finaleinzug und dem möglichen Endspiel gegen Italien und sieht sich bereits als Verlierer. Eigentlich kann nur noch Dänemark Italiens zweiten EM-Triumph nach 1968 – ach, ist das lange her – verhindern.
Das Spiel selbst sehe ich zu Hause, obwohl ich die ganzen langen freien Tage den Plan gehegt habe, in den Žižkov-Biergarten zu gehen. Doch wenn man in einer Kümmergemeinschaft wie der meinigen wohnt, kann man zwar noch Herr seiner Sinne bleiben, aber nicht mehr Herr seiner Zeit und planen kann man sowieso nichts mehr. Man kann nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt, sagt ein altes Sprichwort. Ja, diese Weisheiten haben dann und wann etwas für sich.
Herr der Zeit
Ich nutze die freien Tage und frische mein Wissen über die Architektur auf, lese über die Dientzenhofers, den älteren und den jüngeren, die beiden Kirchen St. Nikolaus, den spanischen Einfluss auf Prag, das Christkindlein auf der Kleinseite, und den italienischen, Arcimboldo, zwischendurch schreckt mich ein grausliger Fund auf: In den Haaren meiner Tochter krabbelt es klitzeklein. Läuse, schreit ihre Mutter auf, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob die zoologische Bestimmung korrekt ist, müssen wir etwas unternehmen. Dem fallen die schönen, langen Haare meiner Tochter zum Opfer, die sowieso dermaßen verknotet sind, dass es höchste Zeit ist, die Schere hier anzusetzen. Ich selbst kürze nochmals von 19 auf 3 Millimeter und gebe dem Ungeziefer keine Chance. Kissenbezüge werden ausgewechselt und gewaschen, Bettzeug in luftdichte Plastiktüten verpackt, nichts bleibt dem Zufall überlassen.
Endlich wieder Rote Beete
Am Spieltag selbst erwerbe ich mal wieder Rote Beete, ich nutze die kleine Chance, die Straße der Dukla-Helden zu überqueren, die durchgehend von einer Film-Crew belegt und gesperrt ist, die dort mit Hunderten Helfern tagelang eine öde Szene dreht, eine Auto-Verfolgungsjagd mit Explosion. Ich kann es mal wieder nicht fassen, wie viel menschlicher Geist, Gestaltungswille und Organisationkraft darauf verschwendet werden, in Szene zu setzen, was wir schon hunderte Male in anderen Filmen gesehen haben. Was folgt ist ein längerer Aufenthalt in der Küche mit dem Ergebnis von knapp zwei Litern frischen Rote-Beete-Saftes, einer Bolognese und einem Kakoakuchen mit Rote-Beete-Trester, dem Entfernen der Quelle unserer Mottenplage und der Einsicht, dass der Erwerb einer Standleiter eine wirklich gute Investition war. Doch leider sind es immer noch ein paar Stunden bis zum Anpfiff.
Gegen 20 Uhr stecke ich meine Tochter in die Wanne, kurz danach erscheint eine bisher unbekannte Nachbarin, die sich über einen Lärm beklagt, von dem ich keine Ahnung habe. Aufkommende Wogen zwischen ihr und der stets konfliktfreudigen Mutter meiner Tochter glätte ich, was zur Folge hat, dass diese kurz nach der Nachbarin auch durch die Tür entgleitet. Ich muss also Fußball zu Hause sehen, jemand muss ja auf das Kind aufpassen. Geplant war das anders.
2008 wachsen Tomaten auf dem Platz
Spanien gegen Italien, ich erinnere mich an das Viertelfinale 2008, zwei Stunden lang Tiefenentspannung vor grünem Hintergrund, Spaniens Kurzpassfolter gegen Italiens Betonabwehr. Wir saßen im Fraktal im Hinterzimmer und Kip kommentierte: Tomaten beim Wachsen zusehen. Damals entschied das Elfmeterschießen für Spanien, das dann auch prompt den Titel gewann – übrigens gegen Deutschland, doch das war nicht Jogi Löws Schuld, das war sein erstes Turnier als Hauptverantwortlicher, das letzte Turnier von Michael Ballack und Manuel Neuer stand noch nicht im Tor, Thomas Müller spielte noch in der A-Jugend und Miroslav Klose bestach wie bei jeder EM durch Harmlosigkeit. Philipp Lahm war damals schon dabei, noch nicht Kapitän, noch auf der linken Abwehrseite und mit einem Fehler, der Fernando Torres das Tor zum Finalsieg ermöglichte. Ach, waren das noch Zeiten.
2021 gibt es Torraumszenen
Diesmal ist vieles anders, das Spiel von Anfang an hochklassig und mit Chancen auf beiden Seiten. Wie erwartet presst Italien nur sporadisch so hoch wie gegen Belgien, beispielsweise in der Anfangsphase, lässt dann aber den Gegner kommen. Oder lassen sie den Gegner gar nicht kommen, sondern der Gegner kommt von selbst, weil er das spielerisch beste Team des Turniers ist, womit ich sagen will, dass die spanischen Abwehrspieler in jeder anderen Mannschaft Mittelfeldregisseure wären. Spanien hat zwar in zwei Spielen zehn Tore geschossen, doch wiederum in drei anderen nur zwei. In der Summe sieht das zwar hübsch aus, doch auf dem Platz zeigt sich die Abschlussschwäche. Selbst gegen Italien, die seit Donnarumma-Gedenken nie mehr als ein Gegentor pro Spiel kassieren, erspielt sich Spanien eine Vielzahl von aussichtsreichen Schusspositionen, doch was gäbe diese Mannschaft für einen David Villa oder Fernando Torres von 2008! So stehen dort nur Dani Olmo, später auch Morata und Moreno und betreiben wie schon gegen die Schweiz Chancenverbrennung – und das am Gedenktag von Jan Hus. Zur Halbzeit steht es trotz des umherirrenden spanischen Torhüters 0:0 und ich begebe mich ins Fraktal.
Nichts Neues im Fraktal
Das bereue ich sofort, das Bier schmeckt nicht und ich sitze neben Radio Jason, dem Mann mit dem Loch im Kopf, der wieder Tomatensaft ins Bier kippt und sein Lieblingsprogramm abspult: Ein bornierter Amerikaner versucht soccer zu begreifen, indem er ständig daneben kommentiert. „Die Italiener und Spanier haben sich für morgen frei genommen, ich werde morgen keine deutschen Kunden betreuen, sondern die Italiener haben. Ich hoffe, die gewinnen und sind morgen alle noch beschäftigt. Die fahren mit ihren englischen SUVs irgendwo in die Berge, wo die Autos dann liegen bleiben, nach Südtirol oder nach Dalmatien...“ - „Dalmatien liegt in Kroatien, du meinst wahrscheinlich die Dolomiten“ - „...sag ich doch, an der Grenze zu Slowenien und der Schweiz...“ - „dazwischen sind noch ein paar Hundert Kilometer zu Österreich“ - „... ja ja, die sind da alle so unorganisiert wie die italienische Mannschaft...“ - „italienische Mannschaft sind die best organisierten auf der Welt“ - „... und erzählen erst mal ihre ganze Familiengeschichte...“
Chiesa trifft
Radio Jason lässt sich leider nicht abschalten, auch vom Tor von Chiesa nicht, der nach einem Konter den zweiten Ball aufnimmt und wunderbar in die lange Ecke schlenzt. Die Kamera zeigt anschließend Berardi in Großaufnahme, weshalb Nick ihn für den Torschützen hält. „Ich hab's ja gleich gesagt, Italien schießt ein Tor. Nick, noch ein Bier? Ich reich' dir das mal rüber...“ Nicks Stimmung trübt sich ein, Italien als Endspielgegner von England – falls das gegen Dänemark gut geht – schmeckt ihm überhaupt nicht. „Jason, halt's Maul!“ Im Takt mit den italienischen Verteidigern versucht Nick die spanischen Angriffsbemühungen zu stoppen, doch einen rechten Erfolg hat er nicht. Der Ausgleich fällt, wunderbar herausgespielt, Morata schießt diesmal nicht vorbei. Nun kommt auch noch ein Tscheche und erfragt die basics des Spiels, Garry bleibt erstaunlich gelassen und höflich, wahrscheinlich lässt sein Tschechisch nicht zu, angemessen zu reagieren. Auswechslung folgt auf Auswechslung, das Spiel geht in die Verlängerung, in der Spanien zunächst drückt, erfolglos.
„Jason, halt endlich dein Maul!“, der Ton wird rauer, die Fouls häufen sich, ohne dass das Spiel richtig unfair wird. Nick hofft auf rote Karten, Felix Brych tut ihm diesen Gefallen aber nicht. „Das da hinten sind Vater und Sohn, die kenne ich, die kommen alle paar Jahr hierher, die wohnen nicht mehr hier“, weist mich Jason auf ankommende Gäste hin. Unter dem Strohhut erkenne ich Herrn Monik, den Bruder und selbsternanntes schwarzes Schaf der Familie, aus der auch Libuše Moniková stammt, die ihre Romane auf Deutsch geschrieben hat, auch wenn diese immer um tschechische Themen kreisen. Großartig ist ihr Roman „Die Fassade“ über die Restaurierungsarbeiten im Renaissance-Schloss von Litomyšl. An diesem Abend komme ich leider nicht mehr dazu, ihn zu begrüßen, als das Spiel zu Ende ist, ist er plötzlich weg.
Spanien scheitert vom Punkt
Nun, Italien schießt gleich zu Beginn der zweiten Hälfte der Verlängerung ein Abseitstor, das Spanien einen dermaßenen Schreck einjagt, dass es seine Offensivbemühungen einstellt und aufs Elfmeterschießen hofft. Dabei hat die Mannschaft im Turnierverlauf mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Elfmeter im Spiel verschossen und im Viertelfinale gegen die Schweiz auch zwei, obwohl sie das gewonnen haben. Spanien bleibt sich treu und verschieß auch diesmal zwei Elfmeter, Dani Olmo und Morata, wer auch sonst. Italien verschießt allerdings nur den ersten Elfmeter, nach dem Nick bereits Hoffnung schöpft. „Los, Spanien!“, feuert er an. Vergebens, den letzten Strafstoß schiebt Jorginho mit aufreizender Lässigkeit ein, Italien steht im Finale und Nick schreit ein letztes Mal für den Abend: „Halt endlich deine Fresse, Jason! Ich meine es ernst.“
Gott, muss das hart sein, Fan von England zu sein. Während des Spiels sagte er noch, „du nimmst im Finale, was du kriegst“, jetzt ist ihm lieber, wenn sein Team schon gegen Dänemark rausfliegt. Am Ende hat auch der Tscheche verstanden, wer gewonnen hat. Um sich bei mir beliebt zu machen, sagt er zu mir: „Mein Großvater war auch Deutschland, Sudeten-Deutschland.“ Ich bestreite das aufs heftigste. „Nein, die Großvater war nicht Deutschland.“ Es dauert eine Weile, bis das durch die Alkoholschwaden eines extrem langen Wochenendes dringt. „Nein, er war nicht Deutschland. Er war Sudetendeutscher.“ Bravo, zum Abschluss etwas gelernt. Und morgen wird wieder gearbeitet, wer Arbeit hat und nicht in Urlaub ist. Außer die Italiener, die haben sich alle frei genommen und Radio Jason betreut auch die, obwohl er kein Italienisch kann, nur etwas Spanisch.