Prag - Luis Suarez ist ein Spieler mit Biss. Dieser Satz genügt zwar nicht den höchsten Höhen klassischer Literatur, die dieser Abend bietet, er taugt gerade mal zum Schenkelklopfer. Der gebührt in diesem Fall jedoch England, drei Spiele, zwei Niederlagen, zwei Törchen. Frank Lampard nennt es eine Schande, andere sehen darin nur die konsequente Entwicklung der splendid isolation, in welcher der Prämien-Liga-Fußball auf der Insel lebt. John erklärt mir die Hintergründe: Englische Spieler spielen nicht im Ausland, höchstens zum Ausklang der Karriere in den USA, weil dort englisch gesprochen wird. Sie haben in ihrem Kopf keinen Platz für eine Fremdsprache und kein Verständnis für andere Fußballkulturen. Prämien-Liga-Fußball vermindert um die vielen best bezahlten ausländischen Spieler sieht dann eben beim Weltfest der besten Fußballnationen immer noch so aus wie der von 1986.
Suarez ist ein Schulterbeißer
Suarez nimmt einfach nur wörtlich, was mancher Trainer im Abstiegskampf mit auf den Weg gibt: Ihr müsst auf dem Platz kratzen und beißen, wenn Gras fressen alleine nicht hilft. Das gehört zur großen Show.
Doch nun zum Biss des Turniers. Suarez nimmt einfach nur wörtlich, was mancher Trainer im Abstiegskampf mit auf den Weg gibt: Ihr müsst auf dem Platz kratzen und beißen, wenn Gras fressen alleine nicht hilft. Das gehört zur großen Show. Bissopfer Chiellini hingegen verscherzt es sich von Anfang an mit dem mexikanischen Schiedsrichter, der zu allem Überfluss Rodriguez heißt, wie ein Dutzend Spieler in diesem Turnier. Jede spanischsprechende Mannschaft hat so einen, außer wohl Spanien selbst, was auch eine Erklärung für den Misserfolg sein kann. Nun also auch ein Pfeifenmann, da kann man schon mal den Überblick verlieren. Chiellini trägt ihm von Anfang an den sterbenden Schwan vor. Chiellini ist jedoch Verteidiger und benutzt seine Ellbogen genau so intensiv wie seine Gegenspieler, weshalb Rodriguez befindet: Darbietung durchgefallen. Chiellini sieht nun auch wirklich nicht wie ein Charakterdarsteller für tragische Rollen aus, er gehört eher in das Fach der comedia dell arte, Sparte buffo. Die Rolle des Tragöden ist auch fest an den großen Andrea, den einzigartigen Pirlo vergeben. Was der alterslose Feldherr in der Nachmittagshitze am Rande des brasilianischen Urwalds aus seinem eigenen Körper herausholt, ist pure Selbstaufopferung. Am Ende des vergeblichen Kampfes wird er sich in sein eigenes Schwert stürzen, seinen Fußsoldaten zum Vorbild. Chiellinis Leistung hingegen gerät eher ins Sprichwörtliche, wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Da hätte schon ein Alligator zubeißen müssen und nicht Luis Suarez, der sich bei diesem Zweikampf beinahe den Kiefer ausgerenkt hätte.
Rodriguez gnadenlos
Uruguay gegen Italien um den Einzug ins Achtelfinale bietet alles, was man von diesen beiden Mannschaften erwarten kann: Taktik, Fouls, häufigere Einsätze des Roten Kreuzes auf dem Schlachtfeld. Und Marchisio, der sich eine rote Karte einhandelt, die auf dem Fernsehbildschirm zunächst völlig unbegründet scheint. Erst in der Zeitlupe und in Nahaufnahme sehen wir die grandiose Dreh-Sprungeinlage am Gegenspieler. Aus der Drehung setzt Marchisio seinen Stollenschuh an der Innenseite des rechten Knies seines Gegenspielers an und stößt sich daran ab, um den Drehsprung zu vollenden. Obwohl Marchisio diesen komplizierten Sprung sogar steht, zeigt sich Rodriguez weder besonders beeindruckt noch angetan, der sich das Kunststückchen aus nächster Nähe anschauen kann. Glatt rot, Italien eine knappe halbe Stunde in Unterzahl. Uruguay nimmt nun Witterung auf und erzielt ein kurioses Tor. Drei Spieler springen in eine Flanke, Verteidiger Godin erwischt den Ball mit dem linken Schulterblatt – das ist regelkonform – und Buffon sieht trotz seines lustigen Namens ziemlich traurig aus.
Fiaskovollzug
Der große Andrea, der einzigartige Pirlo gibt alles, es reicht aber nicht. Wie strapaziös dieses Spiel ist, erkennt man daran, dass die Spieler Uruguays es nicht mehr schaffen, eine der sich bietenden Konterchancen zu Ende zu spielen und alles klar zu machen. Auf dem Weg zum Kasten Buffons versagen die Beine, um den entscheidenden Pass zum mitlaufenden freien Mitspieler zu bringen. Uruguay kommt weiter und trifft im Achtelfinale auf Kolumbien. Italien ist nach Spanien und England das dritte prominente Opfer der Macumba-Verhexung aus Amazonien.
Schnell zu Kolumbien, die wohl als Favorit ins Spiel gegen Uruguay gehen. Sie haben bisher in jedem Spiel überzeugt und gegen Japan keinerlei Mühe gehabt. Uruguay wird wohl ohne Suarez auskommen müssen, die Beißattacke wird die FIFA wohl kaum durchgehen lassen. Für das Spiel wäre das schade, Uruguay ohne Suarez ist deutlich schwächer und wesentlich unspektakulärer.
Samaras und Samaris
Bony hat in der Moldaumetropole und insbesondere im Sparta-Viertel immer noch viele Sympathisanten, ich muss mich nach dem Spiel rechtfertigen, warum ich Griechenland unterstütze. Ich antworte patzig, warum soll ich die Elfenbeinküste unterstützen und denke mir für mich, da liegt mir Griechenland doch einfach näher.
Griechenland und die Elfenbeinküste spielen den Gegner Costa Ricas im Achtelfinale aus. Nach Italiens Fiasko bietet Griechenland das große Drama. Katsouranis gesperrt, nachdem er sich gegen Japan für die Mannschaft und das Unentschieden aufgeopfert hat. Karagounis dafür im Team, auch Samaras. Nach zehn Minuten ebenfalls Samaris, ein Verteidiger muss runter, wohl eine Zerrung. Griechenland braucht den Sieg, die Elfenbeinküste schont niemanden, Drogba spielt von Anfang an. Weitere zehn Minuten, der griechische Torwart wird behandelt, die Rückenmassage hilft nichts, der Ersatzkeeper muss aufs Feld. Ein Grieche haut einen Schuss aus vollem Lauf aus zwanzig Metern gegen die Latte, das war Pech. Die Griechen sind gut, sie wollen und merken, dass sie es an diesem Tag auch packen können. Zur Halbzeit bleibt es beim torlosen Unentschieden.
Die Elfenbeinküste hat eine erfahrene Mannschaft, Drogba, Yaya Toure, Kalou, Wilfried Bony. Die Griechen scheinen jedoch unverwüstlich, sie machen ihr Tor, übler Stockfehler des Elfenbeinküsten-Verteidigers, zwei Griechen spielen sich zum Tor durch und machen das Ding rein. Karagounis knallt zudem ans Lattenkreuz, Jetzt muss die Elfenbeinküste kommen und öffnet den Griechen Räume. Doch die Olympioniken spielen ihre Konter nicht zu Ende, ich bibbere, das könnte sich noch einmal rächen. Und rächt sich auch, wir haben die achtzigste Minute bereits überschritten, ein Fehlpass in der Vorwärtsbewegung, drei Ivorer spielen Bony, den früheren Torgaranten von Sparta Prag, frei, Ausgleich. Bony hat in der Moldaumetropole und insbesondere im Sparta-Viertel immer noch viele Sympathisanten, ich muss mich nach dem Spiel rechtfertigen, warum ich Griechenland unterstütze. Ich antworte patzig, warum soll ich die Elfenbeinküste unterstützen und denke mir für mich, da liegt mir Griechenland doch einfach näher. Die Griechen verdienen sich den Sieg, sie geben nicht auf und dann bricht bereits die Nachspielzeit an und ein ivorischer Verteidiger läuft äußerst ungeschickt in Samaras Beine, der gerade zu einem Schuss in höchst aussichtsreicher Position ansetzt. Völlig verdienter und klarer Elfmeter, auch wenn die Sympathisanten Wilfried Bonys das nicht wahrhaben wollen. Samaras macht ihn, knallhart, halbhoch in die vom Schützen aus gesehene rechte Ecke. Der Torwart kommt nicht ran.
Das wars dann, Griechenland spielt im Achtelfinale gegen Costa Rica. Die Tschechen beschweren sich natürlich. Sie haben 2004 noch nicht vergessen, Halbfinale bei der EM in Portugal. Koller, Rosický und Baroš versagen die Nerven vor dem Tor, Delas köpft mit dem Pfiff zum Ende der ersten Hälfte der Verlängerung Griechenland ins Finale. Das ist zehn Jahre her. Geht das schon wieder los, stöhnt der überzeugte Bonyianer. Ach wirklich?
Gerd Lemke