Allen Widrigkeiten zum Trotz zieht es mich diesmal in den Žižkov-Biergarten zur Leinwand mit dem Pflaster, der Kirmes gleich nebenan und dem doppelten Schlangensystem bei der Bierausgabe: Erst stehst du zum Bezahlen an, dann eventuell nochmals beim Ausschank. Die Leute stehen nebeneinander, tun aber so, als hätten sie nichts miteinander zu tun. Der eine gibt dir einen Zettel, den der nebnan wieder durch das Ausgabefenster entgegennimmt, egal wie wenig Betrieb gerade herrscht. Das haben sich tschechische Technokratenhirne ausgedacht, ich erinnere mich an die alten Zeiten an der Karlsuniversität, jedesmal hat die Verwaltung einen einfachen Vorgang wie das Einschreiben der Noten komplizierter gemacht. Und wenn die Maßnahme nicht den gewünschten Zweck erfüllt hat, noch einen draufgesetzt.
Der unbekannte Grüßer
Ich treffe zum Anpfiff ein und verpasse dadurch, wie das faire englische Publikum die dänische Hymne niederpfeift. Ich stelle mich gleich in die Schlange, wo mich jemand hinter mir zaghaft grüßt, Ich kenne die Person nicht und halte es für eine Verwechslung, das kann schon mal passieren bei meiner neuen Frisur mit den extrem kurzen Haaren, reagiere nicht und versuche das Geschehen auf der Leinwand mitzubekommen, wo England den Vorwärtsgang eingelegt hat. Ich nehme mit gleich zwei Bier und suche einen Platz mit freier Sicht ohne störende Zeltmasten. Schließlich lande ich bei jemandem unbestimmbarer Nationalität, dessen etwas korpulente Frau später kommt, beide unterhalten sich in einer für mich nicht zuzuordnenden Sprache, für Arabisch enthält es zu wenige Rachenlaute.
Halb Dänemark vor der Leinwand
Dänemark hat auch mal eine Chance und ich registriere mit Erstaunen einen zahlenmäßig großen Pulk dänischer Fans vor dem Bildschirm. Was sie singen, verstehe ich nicht. Vor mir beobachte ich ein Mittzwanziger-Paar, beide tippe ich auf südeuropäische Herkunft, daneben sitzen zwei Inder oder Pakistani, am Tisch nebenan höre ich Ausländer-Englisch und auf dem Bildschirm schießt Damsgaard nach knapp einer halben Stunde einen Freistoß humorlos unter die Latte.
Sympathien mit dem Außenseiter
Ich freue mich und weiß jetzt, dass ich heimlich mit Dänemark sympathisiere. England kommt gleich wieder, die Fans singen ein Lied, das ich nicht identifizieren kann, die Anfangszeile klingt „wendelu“. Fünf Minuten nach dem Rückstand erhält England einen Freistoß aus ähnlicher Position wie Damsgaard, schießt jedoch einen Kopf in der Mauer an, weitere zwei Minuten später muss Sterling den Ausgleich machen, trifft nach der Hereingabe von rechts nur Schmeichel, noch eine Minute später ist er dann da, der Ausgleich, wieder eine Hereingabe von rechts, Dänemarks Kapitän rutscht vor Sterling in den Ball und befördert ihn ins eigene Tor.
Türkische Fritten
Unser Tisch bekommt Zuwachs, eine junge Frau mit ihrem vielleicht fünfjährigen Sohn setzt sich dazu, die beiden Frauen unterhalten sich in einfachem Tschechisch. Mit ihrem Sohn spricht sie auf Türkisch, wenn ich das richtig verstehe. Ich bleibe in der Halbzeitpause sitzen, mein Bier reicht noch bis in die zweite Hälfte hinein, während der der Junge einen Teller mit Pommes, Ketchup und Majo serviert bekommt. Leute stehen auf, kommen wieder, sind manchmal im Blickfeld, benehmen sich aber zivilisiert. Das Spiel verflacht, die Fangesänge werden spärlicher, England ist bemüht, scheitert meistens aber an einem dänischen Abwehrbein. Dänemarks Fußball ist schnörkellos, die Mannschaft beschränkt sich auf das Wesentliche und das, was sie kann. Immer seltener schaffen sie es vor das englische Tor, Pickford muss zwei gefährliche Aufsetzer aus der Ecke fischen.
Mit der Nachspielzeit kommt der Regen
Das Spielzeit neigt sich dem Ende zu, die sechs Minuten Nachspielzeit geben England ein Zeichen, die Bemühungen zu verstärken, Dänemark will sich nur noch in die Verlängerung retten. Dann setzt der Regen ein, nur die härtesten der härtesten Fans flüchten sich nicht unter das Zeltdach – und das sind die Dänen. Die Verlängerung schaue ich aus größerer Entfernung neben dem Ausschank. Eine kleine Streiterei und Schubserei auf Französisch flammt auf, das hat sicher nichts mit Fußball zu tun. Hinter mir postieren sich ein paar Dänen, ich kann in ihrer Sprache keine Inhalte identifizieren, machmal klingt etwas vertraut. Der Regen lässt nach und zu meiner Verwunderung pfeift der Schiedsrichter einen Elfmeter für England. Selbst in der Wiederholung und der Zeitlupenanalyse kann ich kein Foul entdecken, der Schiedsrichter scheint sich auch nicht allzu lange mit der Wahrheitsfindung aufzuhalten und zeigt auf den Punkt.
Sterling fällt, Kane trifft im Nachschuss
Kane tritt an, Schmeichel hält, der dänische Jubel wird umgehend erstickt, Kane setzt den Nachschuss ins Netz. Das war's, die Fußballkenner wissen das, Dänemark kommt in diesem Spiel nicht mehr zurück. Wir schauen die zweite Hälfte der Verlängerung nur so pro forma, es hat ein wenig Stadionatmosphäre. Dänemark ist einfach platt, England hält es vom eigenen Tor fern und siegt dank eines Eigentors und einem fragwürdigen Elfmeter verdient. Ja, der Zweck heiligt die Mittel und wenn Chancentod Sterling nichts trifft, dann holt er immerhin einen Elfer raus. Die englischen Fans singen ihr Lied vom Fußball, der heimkehrt.
Kehrt der Fußball heim?
Einige von ihnen waren wahrscheinlich noch gar nicht geboren, als dieses Lied für die EM 1996 komponiert wurde. Nun erlebt es seine Wiederbelebung, ein etwas älterer Fan sagt beim Verlassen des Biergartens ehrfürchtig, „er kommt wirklich nach Hause“, nach 55 Jahren steht England wieder in einem Finale. Das muss ein erhebendes Gefühl sein, das ich nicht nachvollziehen kann. 1974 und 1976 nicht mitgerechnet, die ich nicht bewusst miterlebt habe, habe ich Deutschland schon neun Mal im Finale sehen dürfen, dabei sprangen immerhin vier Siege heraus, nicht schlecht für eine Mannschaft, die gewohnheitsmäßig auch mit schlechten Spielern bis ins Finale vordringt.
Was in den letzten 55 Jahren passierte
In der Zeit, die England auf dieses Ereignis wartet, sind Mannschaften wie Griechenland oder Dänemark Europameister geworden. Selbst die Türkei war bei einer Weltmeisterschaft mal Dritter und Kroatien, das es in der Form erst seit der EM 1996 gibt, ist bei der WM einmal zweiter und einmal dritter geworden. Spanien hat innerhalb von vier Jahren seine Titelbilanz von eins auf vier aufgestockt, Frankreich ist locker an England vorbeigezogen, auch Argentinien, in diesem Halbfinale stand auf dem Spiel, dass das kleine Dänemark zum zweiten Mal in ein EM-Finale vorstößt, während England wieder im Halbfinale scheitert. Das haben die Mannschaft und das Publikum gerade so noch abgewendet, wie es heißt, haben Zuschauer Schmeichel beim Elfmeter mit einem Laserpointer geblendet. Nun steht England zum zweiten Mal in seiner glorreichen Fußballgeschichte im Finale, wieder in Wembley, diesmal gegen Italien. Soll man ihm viel Glück wünschen?
Beim Verlassen des Biergartens begrüßt mich wieder die Person von der Bierschlange zaghaft, ich nicke zurück, weiß aber immer noch nicht, wer das ist. Es muss ein paar Jahre her sein, soviel ist mir klar, ich sehe ein, zwei Engländer, die die heutige Version derjenigen sein könnten, mit denen ich vor 14 Jahren selbst Fußball gespielt habe, nur an den Grüßer kann ich mich nicht erinnern, sein Bart ist grau, das war er damals sich nicht, falls er einen hatte. Wenn er wenigstens etwas gesagt hätte, dann hätte ich ihn an der Stimme erkannt. In der Nachtstraßenbahn höre ich noch lautes und schlechtes Englisch über Real Madrid fabulieren, ich bin froh, dass die Stimmen nach zwei Stationen verstummen.