Prag - Tag 22: Willkommen in der Weltspitze! So fühlt sich das also an und ich bin mir nicht mal sicher, ob ich mich dort lange aufhalten möchte. Doch der Reihe nach.
Zwölf Uhr mittags. Ich fange an, nervös zu werden. Die notwendige Spannung baut sich in meinem Körper auf, es sind noch fünf Stunden bis zum Anpfiff. Doch jetzt bereits kann ich nichts mehr machen. Löse also Sudoka aus der Wochenzeitung Zeit.
Die sind aber zu leicht, so dass ich zu schnell fertig bin. Was nun? Das Rätsel „Um die Ecke gedacht“ ist mir zu schräg, da weiß ich nie etwas, deshalb löse ich das auch nie. Ich kann jetzt nichts mehr essen. Aber auch so geht die Zeit allmählich vorbei.
Der Sekundenzeiger quält sich
Schaue natürlich zu Hause. Mache mir Tee und setze mich gemütlich hin. Höre die Nationalhymnen, Podolski kann den Text immer noch nicht. Na ja, er ist ja auch Pole. Dann endlich der Anpfiff. Man merkt gleich, hier ist etwas anders als sonst. Deutschland kommt nicht so recht in den Vorwärtsgang, drängt den Gegner nicht an den eigenen Strafraum. Nach gefühlten eineinhalb Minuten springe ich auf. Und werde das ganze Spiel über kaum mehr sitzen.
Ballack hat irgendwann eine gute Kopfballchance, köpft aber vorbei oder drüber oder beides, der Ball ist auf jeden Fall nicht drin. Zu diesem Zeitpunkt habe ich den Expander, eigentlich eine Autofeder mit zwei Griffen, schon aus der Hand gelegt. Stahl-Biegen verschafft mir auch keine Beruhigung. Ich hole mir schnell das Maniküremäppchen und schneide mir zwischendurch die Fingernägel. Wenn ich das jetzt nicht tue, reiße ich sie mir vor Anspannung noch ab. Danach greife ich zu den Hanteln. Und zum Tee. Die erste Halbzeit reicht gerade so aus für eine Kanne. Das Spiel ist intensiv wie nie, aber arm an Torchancen.
Wer macht die Kopfballtore?
Mache also für die zweite Halbzeit mehr Tee. Versuche es diesmal mit den Jonglierbällen, greife dann doch wieder zu den Hanteln, um schließlich auf die Feder/den Expander zurück zu kommen. Zwischendurch setze ich mich auch mal kurz hin.
Denn Folgendes passiert: Kurz nach Wiederanpfiff bekommt Argentinien einen Eckball. Na und, unsere Spieler sind im Durchschnitt einen Kopf größer als die Argentinier, was kann da schon passieren? Dummerweise haben sie das für einen Augenblick vergessen, der Ball fliegt scharf herein, Richtung Elfmeterpunkt. Dort steht Klose und macht ihn sicher rein. Nein, halt, es ist ja vor unserem Tor. Dort steht Klose und lässt den Argentinier den Ball reinköpfen. Scheiße! Dabei dachte ich, wir wollten doch die Kopfballtore machen.
Berlin-Neukölln gegen Buenos Aires–Alta Vista
Nun reibe ich also mit der flachen Hand Staub aus dem Teppich. Wird das noch was? Trinke mehr Tee, ungefähr den 15. Liter. Fühle mich wie ein Kamel bei der Zwangstränke. Nur rein damit, dann ist aber leider die Oase ausgesoffen und das Spiel läuft immer noch. Die Flanken kommen nicht, Podolski ist eben kein Vorbereiter. Hinten steht die Mannschaft einigermaßen dicht, sogar Friedrich macht für seine Verhältnisse ein gutes Spiel. Er bekommt es immer wieder mit Teves zu tun, dem Mann aus dem Slum von Buenos Aires, der oben in der Mitte eine Zahnlücke wie Alfred E. Neumann besitzt. Doch - um das vorweg zu nehmen - Teves schießt kein Tor. Friedrich hat das Fußballspielen ja in einem Hinterhof in Neukölln erlernt, da lernt man sich gegen alle Hinterhältigkeiten durchsetzen.
Doch was hilfts - mittlerweile bin ich wieder bei der Feder/dem Expander, das Spiel nach vorne läuft nicht richtig. Und nach hinten müssen alle arbeiten. Willkommen in der Weltspitze, meine Herren! Da lässt einem der Gegner nicht einmal die Zeit zum Räuspern zwischen zwei Sätzen. Das Spiel ist zwar ständig unterbrochen, doch schlimme Fouls gibt es Gott sei Dank erst nach dem Spiel.
10,8 sec in Fußballschuhen (handgestoppt)
Guru Klinsmän bringt unsere schwarze Perle Odonkor. Der Mann soll ja die Hundert Meter in zehn Komma acht laufen - in Fußballschuhen (und handgestoppt natürlich)! Das sorgt auf der rechten Seite für Entlastung für Friedrich und für gelbe Karten bei den beiden argentinischen Verteidigern. Dann kommt Borowski für Schweini, dessen Haargel bei dem intensiven Spiel nicht gehalten hat. Die Spitzen stehn nicht mehr, sondern hängen. Drei Wetter Taft wäre also angebracht gewesen.
Mein Mut sinkt, nach vorne geht herzlich wenig. Die Flanken kommen nicht an. Der Teppich ist mittlerweile recht sauber, da flankt Ballack von halblinks in den Strafraum, Borowski verlängert und Klose köpft. Wo der Ball hin geht, fängt die Kamera leider nicht ein, niemand jubelt so recht ausgelassen, aber es ist trotzdem ein Tor. Der Ausgleich! Einem ganzen Stadion verschlägt es vor Erleichterung die Sprache, mir fällt nichts mehr ein.
Gleich versucht Argentinien auf Angriff umzuschalten. Aber bis zum Ende der Verlängerung passiert eigentlich nicht mehr viel. Beide Mannschaften sind auch stehend ka-o - außer natürlich Torsten Frings, dem letzten Spieler mit einer Fußballer-Matte. Der Mann ist nicht tot zu kriegen und eindeutig der beste Spieler auf dem Platz. Und natürlich Odonkor, der ist aber eben erst reingekommen.
Lehmann hält, Unsere verwandeln
Abpfiff, Elfmeterschießen. Ich bin so verschwitzt, also hätte ich selbst mitgespielt. Ich kann meinen eigenen Geruch kaum noch ertragen. Dann schlägt natürlich die Stunde von Jens Lehmann. Jetzt wird endgültig klar, warum er und nicht Titan Kahn im Tor steht. Weil Jens eben Elfer halten kann oder zumindest die Schützen autosuggestiv dazu zwingt, drüber zu schießen (siehe Tag 16). Wir schießen alle Elfer sicher rein, Neuville halbhoch scharf getreten in die rechte Ecke, Ballack halbhoch in die Mitte, leicht links versetzt, Podolski mit links souverän in die rechte untere Ecke, das selbe Borowski, der aber mit rechts. Lehmann ahnt jedesmal die Ecke, hält zwei Mal und muss zwei Mal knapp passieren lassen.
Wir stehen im Halbfinale, mein Gott, war das anstrengend! Ich bin fix und fertig. Die Argentinier versuchen nochmals, eine Schlägerei mit unseren Spielern anzuzetteln. Doch da tritt Robert Huth (the Berlin Wall) in seiner Heimatstadt energisch dazwischen. Das sorgt kurzfristig für Ruhe. Ich bekomme das alles schon gar nicht mehr mit, liege erschöpft auf dem Bett und setze mir eine Sauerstoffmaske auf.
Fix und fertig
An die folgenden anderthalb Stunden kann ich mich nur schemenhaft erinnern, ich muss wohl geduscht und gegessen haben. Zum Anpfiff des Abendspiels bin ich auf jeden Fall in der Kellerbar, schwer gezeichnet von den Strapazen, aber wiederum auch glücklich. Das Spiel ist schnell erzählt, Italien schießt ein frühes Tor. Als die Ukraine in der zweiten Halbzeit endlich zu Chancen (und was für welchen!) kommt, setzt Italien einen Konter zum Zweinull. Schließlich folgt noch ein Dreinull. Schewtschenko bemüht sich mehr als in den vorhergehenden vier Spielen zusammen, doch außer zu einer Glanzparade, bei der Buffon an den Pfosten knallt, springt nichts dabei heraus.
Also gegen Italien, gegen die wir noch nie ein wichtiges Spiel gewonnen haben. Servus! Oder besser gesagt mille gracie!
Ihr deutscher WM-Beobachter in Prag