Also los, den Anfang vom langen Ende machen am Dienstagnachmittag Frankreich und Dänemark. Ich komme also nach Hause und schaue etwas, doch dann packt mich mein schlechtes Gewissen und beginne eine Editionstätigkeit. Das Spiel läuft nebenher als Hörspiel und ich bin etwas überrascht, als es dann zu Ende ist. Es scheint keine Höhepunkte gegeben zu haben, im anderen Spiel rettet Peru immerhin seine Ehre und besiegt wenigstens Australien. Anschließend widme ich mich Kind und Lebensgefährtin MM, die zwischenzeitlich eingetroffen sind. Sie schlägt vor, zu einem Konzert der Tschechischen Philharmonie auf dem Burgvorplatz zu gehen, ich entgegne säuerlich, dass ich arbeiten muss. Sie kichert darüber und ich äffe sie nach, denn lustig finde ich das nicht. Des lieben Friedens willen biete ich abends an, Fußball in der Kneipe zu schauen. Sie hat gar nichts dagegen, doch zieht sich mein Abgang bis zur Pause hin, denn ich bin nicht ganz zufrieden mit ihrem Service für das Kind und wechsle schnell noch selbst die Windeln und füttere es, während Messi mal ein Tor schießt. Dann gehe ich aber wirklich ab.
Argentinien mogelt sich durch
In der Punk-Kneipe läuft Argentinien gegen Nigeria und ich habe mein erstes Bier, da fällt auch schon ein Tor. Ich bekomme es so spät mit, dass ich nur den verwandelten Strafstoß sehe, nicht aber das vorausgehende Vergehen. Im Moment ist Argentinien draußen, denke ich. Der Wirt haut mich an, morgen solltest du kommen und schauen. Ich entgegne, ne, morgen Abend werde ich traurig sein. Immerhin ist es das erste Spiel der We Emm in Putins Reich, das ich in einer echten Kneipe schaue. Da muss es schon Messi sein und möglichst eine Überraschung. Ungestört rechne ich durch, was passieren müsste, um Argentinien sicher nach Hause zu schicken. Denn Island schafft zwischenzeitlich den Ausgleich gegen Kroatien. Jetzt noch ein Tor der Isländer und Argentinien könnte nochmals nachlegen, wäre aber trotzdem draußen.
In der Kneipe wird sich nicht explizit um Fußball gekümmert, aber ich bin nicht der einzige, der schaut. Der Wirt beruhigt mich, das wird schon morgen gegen Nord-, nein, stopp, Südkorea. Es gibt ein paar haarige Szenen im Spiel, ein argentinischer Verteidiger tritt einem nigerianischen Stürmer den Ball quasi vom Kopf weg, die Pfeife des Schiedsrichters bleibt stumm. Die Aktion sah aus wie Capuera, obwohl das aus Brasilien stammt. Wenn das kein hohes Bein und gefährliches Spiel war, dann können sie gleich mit Baseballschlägern aufeinander losgehen. Etwas später verunglückt einem argentinischen Abwehrspieler – ich weiß nicht, ob es derselbe ist – ein Kopfball dermaßen, dass er sich das Spielgerät an die eigene Hand befördert. Absicht war das sicher nicht, wenn er aber dadurch verhindert, dass der Ball zum bereit stehenden nigerianischen Stürmer gelangt, muss man das pfeifen und es hätte wieder Strafstoß geben müssen. Der Schiedsrichter winkt ab und bemüht sich nicht mal zum Videobeweis. Dann kommt es, wie es kommen muss, den Gauchos vom rechten Ufer des Silberflusses gelingt ein schöner Angriff und ein Tor – Messi ist es diesmal nicht. Parallel schlägt Kroatien nochmals zu, in den verbleibenden zehn Minuten (inklusive Nachspielzeit) passiert nichts mehr. Auf dem Nachhauseweg sinniere ich darüber nach, dass dies Absicht sein muss, um die Spannung hochzuhalten, am Ende setzen sich letztlich dann doch die Favoriten durch. Doch bevor es soweit ist, muss ich in der Kneipe noch einige heftige Regengüsse abwarten, das zieht sich. Und am folgenden Tag klingelt der Wecker um 6 Uhr morgens.
Nun, wie ich es geschafft habe, weiß ich nicht mehr, aber ich habe den Tag überlebt und bin pünktlich zum Anpfiff des Deutschland-Spiels zu Hause vor dem Bildschirm. Kurz überlege ich noch, mir das Spiel woanders zu Gemüte zu führen, doch dann treibt es mich zu Frau und Kind. Ich verpasse Nationalhymnen und Aufstellung und kann im Laufe des Spiel die Taktik von Löw herauslesen. Im Tor Neuer, nichts Neues, hinten Hummels, das war auch klar, zusammen mit Süle. Außen Kimmich und Hector. Im Mittelfeld Kroos, logisch, aber wieder mit Khedira und Özil, die im Spiel zuvor noch auf die Straf-, äh, Ersatzbank verbannt waren. Puh, denke ich. Ein Schwenk auf selbige zeigt mir, dass dort auch Müller Platz genommen hat. Das geht in Ordnung, doch statt seiner spielt Goretzka und vorne Konterstürmer Werner und Reus, der lieber aus der zweiten Reihe kommt. Gomez bleibt die Jokerrolle und der quirlige Brandt muss ebenfalls warten. Was also ist hier eigtnlich die Spielidee?
Apathie allerorten
MM macht sich währenddessen in der Küche zu schaffen, sie schimpft manchmal über das Kind, denn das hat die Neigung, erreichbare Schubladen auszuräumen oder den Trennmüll neu zu sortieren. Im deutschen Spiel passiert nichts Besonderes, Neuer kann einen Schuss nicht festhalten und rettet im Nachhechten vor einem Koreaner. Deutschland spielt bewusst kontrolliert, doch irgendwann reicht das Unentschieden nicht mehr, denn Schweden trifft im Parallelspiel gegen Mexiko. Jetzt muss also ein Sieg her, doch die Spieler scheinen es auf die Schlussphase abgesehen zu haben. In der zweiten Hälfte ist das Kind bei mir vor dem Bildschirm, ich füttere es und verpasse eigentlich nicht allzu viel. Zähe Ballstafetten, Schweden legt noch zwei Mal nach, immerhin sind die Skandinavier so nett, die Sache so eindeutig zu machen, dass den Deutschen ein Sieg reicht. Mir reicht es aber auch langsam und ich beginne lauthals zu lamentieren, wie die denn eigentlich jemals ein Tor schießen wollen? Aus der Distanz versuchen sie es fast nie, selbst nachdem Gomez hereingekommen ist, kommen nur höchst selten hohe Flanken und ins Dribbling traut sich auch kaum jemand. Für die schönste Aktion sorgt noch Özil, als er mal direkt spielt. Doch im Abschluss hapert es, aber gewaltig.
Keine Gefahr
Das Kind schaut mich bereits seltsam an, es kennt seinen Papa noch nicht so ungehalten. Höhepunkt der Slapstick-Aktion ist ein Kopfballversuch von Verteidiger Hummels, frei vor dem Tor in aussichtsreicher Position, als es dann endlich doch mal jemand mit einer hohen Flanke versucht. Frei vor dem Tor trifft er den Ball nicht mit dem Kopf, sondern mit der Schulter, der dann irgendwohin ins Aus fliegt. Einige Minuten vor Schluss gebe ich auf, ich kann mir das Gewürge einfach nicht mehr anschauen und gehe lieber in die Küche gespültes Geschirr abtrocknen. Natürlich komme ich wieder vor den Bildschirm, mit einem Geschirrteil und einem Geschirrtuch in der Hand und sehe das 0:1. Abseits, Glück gehabt. Abseits? Nein, Kroos hat den Ball nach einem koreanischen Eckball seinem Abwehrspieler geschickt durch die Beine gespitzelt, am langen Pfosten steht ein Koreaner ganz frei, der das Geschenk annimmt. Ich bin tatsächlich erleichtert, gleich ist Schluss mit dem Krampf und ich muss mich in keinem Achtelfinale wider besseres Vorahnen zu Optimismus zwingen.
Kein böser Sturz
Der Rest, das zweite Tor, geschenkt. Das Kind fällt vor Entsetzen um, erst auf den mit einer Windel gut gepolsterten Hosenboden, schlägt dann aber auch mit dem Hinterkopf auf. Zum Glück macht das Kleinkindern nichts, es schreit aber trotzdem und MM schimpft auf meine Unachtsamkeit und den Fußball im allgemeinen. Ich nehme das Kind auf den Arm und tröste es, im Ausblenden aus dem Stadion sehe ich, dass immerhin Süle, ein Kerl wie ein Berg, in Tränen ausbricht. Von den meisten anderen Mitspielern kann ich mir das nicht einmal vorstellen, die werden wohl genauso apathisch vom Platz geschlichen sein, wie während des Spiel über selbigen. Am folgenden Tag muss ich mich natürlich erklären und finde die schöne Formel, dass ich mit dieser Mannschaft nicht einmal mehr mitleiden konnte, so demoralisierend waren ihre Darbietungen. Das ist das Ende einer großen Mannschaft, die einmal viel Spaß gemacht hat. Doch 2018, das war Agonie über 270 Minuten plus Nachspielzeit, also beinahe fünf Stunden Entsetzen und memento morii. Glück für Ginter, dass er auch diesmal wie 2014 nur dabei war, aber nicht eine Minute mittendrin.
Ich stelle mich der Schadenfreude
Nun, nach dem Essen zeige ich mich nicht feige und gehe in Freds Bar, in der ich vier Jahre zuvor die meisten Spiele gesehen habe. Vieles hat sich verändert, die Raucher müssen draußen ihrem Hobby frönen, die organischen Schäden der Trinker werden akuter und haben sich von der Leber auf weitere Organe ausgedehnt. Fred ist natürlich bester Laune, schmeißt noch eine Runde und singt schwedische Lieder. Ich setze mich der Schadenfreude aus, die aber noch gar nicht richtig ausbrechen möchte. Ein Engländer bemerkt süffisant, er wisse, wie es sich anfühlt, in der Vorrunde auszuscheiden. Ich weiß das natürlich auch, da brauche ich nur an die Europameisterschaften 2000 und 2004 zurückzudenken. Das Team 2000 war ein hoffnungsloser Fall, Trainer Erich Ribbeck und Mittelfeldmotor Lothar Matthäus mit 40 in seinen Länderspielen 148, 149 und 150.
Die Situation war 2004 vor dem letzten Spiel aber ähnlich wie diesmal. Man musste gegen die tschechische B-Elf einfach nur gewinnen. Im Spiel zuvor war man bereits an der eigenen Schussschwäche gescheitert und ist über ein torloses Unentschieden gegen Lettland nicht hinausgekommen. Ballack hat aus allen Rohren gefeuert, doch viel zu ungenau.
Ich kaufe noch schnell Milchpulver für das Kind ein und bleibe noch zur ersten Halbzeit zwischen Brasilien und Serbien. In Freds Bar will aber keine rechte Stimmung aufkommen, Brasilien geht in Führung und macht in der zweiten Hälfte alles klar, die ich aber bereits wieder zu Hause anschaue.
Der Donnerstag gehört bis fast 17 Uhr der Arbeit und den Kunden. Auf dem Heimweg schaue ich kurz in Freds Bar, dort sitzt der Wächter der Fernbedienung, zwischen Kolumbien und Senegal steht es noch 0:0. Ich grüße kurz und gehe gleich wieder, zu Hause sehe ich die letzte Viertelstunde, Kolumbien verteidigt den zwischenzeitlich geschossenen Siegtreffer. Senegal scheidet durch die Fair Play Wertung aus, Japan hat schlichtweg weniger gelbe Karten gesammelt. Anschließend versuche ich mich mit dem Kind hinzulegen, MM verlässt das Haus, ich schalte automatisch den Computer ein, doch merke nach wenigen Minuten, dass mich das Spiel zwischen Belgien und England nicht großartig berührt. Beide Teams sind weiter und schonen ihr Spitzenpersonal. Belgien gewinnt 1:0 und trifft im Achtelfinale auf Japan, England dann auf Kolumbien. Das wichtigeste: Morgen ist kein Spiel.