Es ist Sonntagnachmittag. Nach einer anstrengenden Woche und einem ebensolchen Wochenende hatte ich mich eigentlich darauf gefreut, den ganzen Tag im Schlafanzug zu verbringen und endlich mal die seit Wochen vernachlässigten Unisachen zu machen. Doch wie immer, wenn ich Pläne für einen Tag mache, kommt mein Mitbewohner und durchkreuzt sie. Diesmal wollte er unbedingt einen Spaziergang machen, weil doch das Wetter so schön sei und wir ja gleich um die Ecke vom Petřín (Laurenziberg) wohnen.
Zuerst hatte ich ja noch Hoffnung, dass ich mich aus der Affäre ziehen könnte, weil er Bücher von einer Kommilitonin brachte und dann diese in die Natur schleifen wollte. Doch leider befand sie sich auf der Chata irgendwo im nirgendwo. Und da ich Männern ja nur sehr schwer einen Wunsch abschlagen kann, und Matĕj schon mal gleich gar nicht, ließ ich mich schließlich überzeugen, und stimmte unter der Bedingung, dass wir die Seilbahn nach oben nehmen und es nicht länger als maximal eine Stunde dauern würde, schließlich zu. Ratzfatz zog ich den Schlafanzug also aus, warf mich in irgendwelche Klamotten, die gerade herumlagen, und schon ging es raus aus dem Haus. Matĕj meinte dann, da das Wetter so schön sei, sei die Bahn wohl überfüllt, sodass wir den Bus auf den Berg nahmen.
Als wir endlich oben angekommen waren, und ich heilfroh war, dass ich mich nicht übergeben hatte (ich bin ein Bus- und Autokotzkind) standen wir direkt vor dem Stadion Strahov. Nun muss ich ja sagen, dass ich nicht das erste Mal hier oben auf dem Berg bin, und jedes Mal wenn ich vor diesem großen einsamen und verlassenen Koloss stehe, übt er eine seltsame Anziehungskraft auf mich aus. Einst war das hier der in Beton gegossene Ausdruck der kommunistischen Macht und die Vorstellung der dort stattgefundenen Propagandaereignissen lässt mein Historikerherz schneller schlagen. Doch es ist nicht nur der steinerne Beweis der Geschichte, der mich anzieht, es ist auch diese Aura der Verlassensseins und des Verfalls.
Bisher hatte ich immer gedacht, dass es nicht möglich sei, das nicht mehr genutzte Stadion, welches mit einer Kapazität von 220 bis 250.000 Plätzen zu einem der zwei größten Stadien der Welt gehört, von innen zu besichtigen. Somit begnügte ich mich bislang damit, es von außen zu bestaunen und mir von der Eiffelovska aus einen kleinen Blick ins Innere zu erhaschen.
Als wir nun so davor standen, fragte ich Matĕj als stadtkundigen Prager, ob es nicht doch möglich sei, das Stadion von innen zu besichtigen. Er war sich nicht ganz sicher, meinte aber wir sollten mal ein Stück das Stadion entlang gehen und vielleicht sei ja ein Eingang offen. Und Tatsache, keine fünf Minuten später standen wir drinnen. Wie ich nun feststellte, war das Stadion ganz und gar nicht ungenutzt. Hier befindet sich nämlich die Geschäftstelle des Fußballvereins Sparta Slavia, deren Spieler auf den acht Fußballfeldern der Grünfläche trainieren und Spiele von der 2. Mannschaft und der Jugendgruppe abhalten. Vorbei an all dem Schick war es uns ohne Probleme möglich, auf die das gesamte Spielfeld von 62.876 Quadratmeter umgebende Tribünen und deren Unterbau zu kommen. Und nun begann die Zeitreise. Kaum saß ich nämlich auf einer der verwitterten gelben Bänke, überblickte das riesige Grün vor mir und sah rings um mich rum die weitläufige Zuschauertribüne, alles von einem Flair des Verfalls und vergangenen Ruhmes umfangen, stellte ich mir mit welchen Pomp die Massenveranstaltungen damals hier abgehalten wurden und wie dies damals auf das Publikum gewirkt haben mag.
Hier ist anzumerken, dass Strahov nicht erst von den Kommunisten für solche Events genutzt wurde. Bereits 1926 wurden an der Stelle des heutigen Stadions Holztribünen erbaut, welche 1932 durch Zementtribünen ersetzt wurden. Das Areal wurde damals unter anderem für die großen gesamtstaatlichen Treffen der tschechischen Turnergemeinde Sokol (Všesokolský slet) genutzt. Weitere Ausbauarbeiten fanden dann noch 1948 statt. Seine endgültige Form erhielt das Stadion 1975. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde es als zunächst Konzertarena genutzt und zog einige der ganz Großen an. Den Anfang machten die Rolling Stones 1990, gefolgt von Guns n’ Roses, Bon Jovi, Aerosmith, Pink Floyd, U2 und AC/DC um hier nur ein paar Namen zu nennen.
Doch leider ist das auch schon ein Weilchen her und wenn ich nun hier so auf der Tribüne sitze, finde ich es verdammt schade, dass ich nicht die Gelegenheit haben werde hier mit 100.000 Fans einem solchen Erlebnis beizuwohnen. Damals wollten die Menschen z. B. noch viele Tickets für ein Bon Jovi Konzert, doch heute ist das Stadion wie gesagt bis auf das Training und ein paar Spiele von Sparta ungenutzt und verfällt immer mehr. Eigentlich wollte man es ja renovieren, hätte man die Zusage für die Olympischen Spiele 2016 bekommen. Doch leider sah sich Tschechien gezwungen die Bewerbung aus finanziellen Gründen fallen zu lassen.
Ich stromere mit Matej nun weiter durch die Sitzbänke, hinab in den Unterbau und an einer anderen Stelle wieder hoch ans Licht. Wie ich bemerke liegt das Gelände gar nicht so brach. Überall liegen Flaschen rum, sind Graffitis an den Wänden. Scheinbar benutzt es auch die Prager Jugend und ich muss sagen, dass ich mir die Zwischenetagen auch gut als Partyareal vorstellen kann. Weiter geht die Entdeckungsreise vorbei an ein paar hier schlafenden Pennern hin zu Tropfsteinen. Ja, ganz recht, Tropfsteine. Die wachsen hier nämlich. Und inzwischen auch ein kleine Bäume unter den Sitzplätzen.
Nun haben wir das Stadion halb umrundet und kommen nicht mehr weiter. Matĕj hat auch so langsam genug von der Entdeckungstour, sehr zu meinem Leidwesen, da ich noch Stunden hier rumklettern könnte. Aber dafür fehlt ihm vielleicht auch das eine oder andere Geschichtsgen oder die Vorliebe für Ruinen. Deshalb kehren wir um und verlassen durch das nächste ausgebrochene Eisengitter das Stadion und machen nun den eigentlich geplanten Spaziergang durch den Petřín, von dem Matĕj sich, trotz meiner Proteste, dass ich noch was für die Uni machen muss, nicht abbringen lässt. So kommen wir letztlich anstatt nach einer Stunde erst nach zweien nach Hause. Aber ich muss sagen, für mich hat es sich gelohnt und ich habe mal wieder eine neue Seite von Prag und seiner Vergangenheit, fernab der Touristenströme, entdeckt.